DER TRAUM VOM
BURGFRÄULEIN
Ich hatte eine schöne und unbeschwerte Kindheit, streifte
mit meinen Eltern durch Wald und Flur. Wir erkundeten unsere nähere
Eichsfeldumgebung auf Spaziergängen, per Rad oder mit Vatis Motorrad-Beiwagen-AWO
und Halbschale behelmt. Der Fahrtwind blies ein Hauch von Freiheit um unsere
Nasen und die Augen spähten in sämtliche Richtungen.
Geboren wurde ich im Grenzdorf Wahlhausen an der Werra.
1952 bezogen wir im Hansteindorf Bornhaben eine Neubauwohnung, weil sich für
meine Eltern dort neue berufliche Perspektiven ergaben. Vati wurde nach einem
ABF-Studium als Ingenieur für Landtechnik in der dortigen MTS tätig und Mutti
übernahm die Betriebskantine. Mir gefiel die neue Heimat mit Burgreiz vom
ersten Tag an.
Ich besuchte den dortigen Kindergarten und wurde 1956 im
Schulhaus Debertshäuser, inmitten der Ortschaft, gleich neben der Kirche,
eingeschult. Mit der Zuckertüte bekam ich noch ein Schwesterchen zu diesem
Anlass. Schon bald reichte der Unterrichtsraum nicht mehr aus und man fand im
Ortsteil Rimbach, zu Füßen des Hansteins, ein geeignetes Objekt. Der einstige
Wohnpalast der Familie von Hanstein, im Zuge der Bodenreform enteignet, wurde
unser neues Schulgebäude, das man zuvor als Jugendherberge und später zur
Unterbringung der Grenzsoldaten genutzt hatte.
Man schrieb das Jahr 1959, als eine quirlige Kinderschar in
dieser Villa schulisch unterrichtet wurde. Unser Klassenlehrer Herr Guse zog
ebenfalls mit seiner Familie dort ein. Er und Frau Debertshäuser waren die
Lehrer an diesem einzigartigen idyllischen Ort mit Blick ins Hessenland und auf
die wildromantische Burganlage. So mancher Sonntagsspaziergang endete in dieser
Zeit auf der Turmspitze des noch erhalten gebliebenen Nordflügels. Ich erfuhr,
dass die mittelalterliche Festungsanlage in fast zweihundertjähriger Bauzeit in
den Sandsteinfelsen gezaubert wurde. Der Panoramablick, der sich nach jedem
Aufstieg offenbarte, besetzte sämtliche Sinne stets aufs Neue. Vom dicht
bewaldeten Höheberg konnte man seine Augen in das sagenumwobene Werratal über
den Harz bis hin zum Inselsberg und über unser kirchengekröntes Eichsfeld
wandern lassen.
Nun hatte sich mein Schulweg zwar verdoppelt, aber wir,
mein Schulfreund Werner und Freundin Gabi, starteten allmorgendlich mit Freude
und Erwartung in den Tag, denn es gab immer irgendwo etwas zu erleben. Man fand
neue Freunde, tauschte auch mal das Frühstücksbrot aus oder ergänzte vor
Unterrichtsbeginn die fehlenden Hausaufgaben.
Nach den Strapazen des Lernens und Stillsitzens brauchten
wir frische Luft und Bewegung. Also rannten wir auf unsere Ritterburg, warfen
die Schulranzen auf der Burggartenterrasse ab und stürmten über die Hängebrücke
in die Burganlage, um auf Abenteuersuche zu gehen. Die Jungen holten ihre
selbst geschnitzten Holzschwerter aus den Mauerverstecken und zelebrierten im
Rittersaal Fechtkämpfe. Wir Mädels feuerten sie an und jubelten ihnen zu. Dann
kamen unsere Auftritte. Ein langer Rock von Oma, eine ausrangierte Gardine von
Mama, ein Hüftschnürgürtel und ein Tuch ließen uns zum Burgfräulein werden. Ich
entflochte meine dicken langen Zöpfe und manchmal auch die Affenschaukeln, ließ
die gewellte Pracht über die Schultern fallen und krönte mich mit einem
Gänseblümchenkranz. Graziös durchschritten wir im Tänzelgang ehrwürdig
gestikulierend den Festsaal, um von den Schuljungen gehuldigt zu werden. Oft
krochen wir auch ganz unerschrocken im Kellergewölbe rum, in der Hoffnung,
einen Silberschatz zu finden. In der Burgküche spielten wir Hüpfgummi und im
Vorhof Abwerfball. Lediglich das grauenvolle Burgverlies mieden wir. War das
ein Spaß!
Manchmal blieb ich in einer Fensternische sitzen und
schickte meine Gedanken beim stillen Betrachten in das Reich der Träume. Hier
erfasste mich die Bewunderung und meine Fantasien reisten in das Mittelalter.
Schon blickte ich in das hübsche und vornehme Antlitz eines Burgfräuleins, das
zum schmückenden Inventar der Burg gehörte. Das waren adlige Damen, meistens
Töchter von Rittern oder Burgherren. Sie standen der Herrin als Zofe zur Seite
und galten als Unterhalterin bei Festlichkeiten. Ein Burgfräulein führte ein
angenehmes Leben, war stets gut gekleidet und musste keine niederen Arbeiten
verrichten. Der Wert ihrer Schönheit war ausschlaggebend bei der Gattenwahl,
die von den Herrschaften bestimmt wurde. Vielleicht nur ein Traumbild, aber es
gefiel mir.
Bei jeder sich bietenden Gelegenheit schlängelten wir
unsere Kinderkörper den spiralförmigen, felskalten engen Gang zur Turmspitze
hoch, wo uns die Welt zu Füßen lag. Auch als der Turm nach 1961 holzüberdacht
wurde und zum Beobachtungspunkt gen Westen von Grenztruppen besetzt gehalten
war, schlüpften wir ins „Wachstübchen“, denn über den Besuch der Jungen
Pioniere freuten sich die Grenzer, anstatt zu maßregeln.
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