Sonntag, 5. November 2017

Kindheitserinnerungen

DER TRAUM VOM BURGFRÄULEIN

Ich hatte eine schöne und unbeschwerte Kindheit, streifte mit meinen Eltern durch Wald und Flur. Wir erkundeten unsere nähere Eichsfeldumgebung auf Spaziergängen, per Rad oder mit Vatis Motorrad-Beiwagen-AWO und Halbschale behelmt. Der Fahrtwind blies ein Hauch von Freiheit um unsere Nasen und die Augen spähten in sämtliche Richtungen.

Geboren wurde ich im Grenzdorf Wahlhausen an der Werra. 1952 bezogen wir im Hansteindorf Bornhaben eine Neubauwohnung, weil sich für meine Eltern dort neue berufliche Perspektiven ergaben. Vati wurde nach einem ABF-Studium als Ingenieur für Landtechnik in der dortigen MTS tätig und Mutti übernahm die Betriebskantine. Mir gefiel die neue Heimat mit Burgreiz vom ersten Tag an.

Ich besuchte den dortigen Kindergarten und wurde 1956 im Schulhaus Debertshäuser, inmitten der Ortschaft, gleich neben der Kirche, eingeschult. Mit der Zuckertüte bekam ich noch ein Schwesterchen zu diesem Anlass. Schon bald reichte der Unterrichtsraum nicht mehr aus und man fand im Ortsteil Rimbach, zu Füßen des Hansteins, ein geeignetes Objekt. Der einstige Wohnpalast der Familie von Hanstein, im Zuge der Bodenreform enteignet, wurde unser neues Schulgebäude, das man zuvor als Jugendherberge und später zur Unterbringung der Grenzsoldaten genutzt hatte.

Man schrieb das Jahr 1959, als eine quirlige Kinderschar in dieser Villa schulisch unterrichtet wurde. Unser Klassenlehrer Herr Guse zog ebenfalls mit seiner Familie dort ein. Er und Frau Debertshäuser waren die Lehrer an diesem einzigartigen idyllischen Ort mit Blick ins Hessenland und auf die wildromantische Burganlage. So mancher Sonntagsspaziergang endete in dieser Zeit auf der Turmspitze des noch erhalten gebliebenen Nordflügels. Ich erfuhr, dass die mittelalterliche Festungsanlage in fast zweihundertjähriger Bauzeit in den Sandsteinfelsen gezaubert wurde. Der Panoramablick, der sich nach jedem Aufstieg offenbarte, besetzte sämtliche Sinne stets aufs Neue. Vom dicht bewaldeten Höheberg konnte man seine Augen in das sagenumwobene Werratal über den Harz bis hin zum Inselsberg und über unser kirchengekröntes Eichsfeld wandern lassen.

Nun hatte sich mein Schulweg zwar verdoppelt, aber wir, mein Schulfreund Werner und Freundin Gabi, starteten allmorgendlich mit Freude und Erwartung in den Tag, denn es gab immer irgendwo etwas zu erleben. Man fand neue Freunde, tauschte auch mal das Frühstücksbrot aus oder ergänzte vor Unterrichtsbeginn die fehlenden Hausaufgaben.

Nach den Strapazen des Lernens und Stillsitzens brauchten wir frische Luft und Bewegung. Also rannten wir auf unsere Ritterburg, warfen die Schulranzen auf der Burggartenterrasse ab und stürmten über die Hängebrücke in die Burganlage, um auf Abenteuersuche zu gehen. Die Jungen holten ihre selbst geschnitzten Holzschwerter aus den Mauerverstecken und zelebrierten im Rittersaal Fechtkämpfe. Wir Mädels feuerten sie an und jubelten ihnen zu. Dann kamen unsere Auftritte. Ein langer Rock von Oma, eine ausrangierte Gardine von Mama, ein Hüftschnürgürtel und ein Tuch ließen uns zum Burgfräulein werden. Ich entflochte meine dicken langen Zöpfe und manchmal auch die Affenschaukeln, ließ die gewellte Pracht über die Schultern fallen und krönte mich mit einem Gänseblümchenkranz. Graziös durchschritten wir im Tänzelgang ehrwürdig gestikulierend den Festsaal, um von den Schuljungen gehuldigt zu werden. Oft krochen wir auch ganz unerschrocken im Kellergewölbe rum, in der Hoffnung, einen Silberschatz zu finden. In der Burgküche spielten wir Hüpfgummi und im Vorhof Abwerfball. Lediglich das grauenvolle Burgverlies mieden wir. War das ein Spaß!

Manchmal blieb ich in einer Fensternische sitzen und schickte meine Gedanken beim stillen Betrachten in das Reich der Träume. Hier erfasste mich die Bewunderung und meine Fantasien reisten in das Mittelalter. Schon blickte ich in das hübsche und vornehme Antlitz eines Burgfräuleins, das zum schmückenden Inventar der Burg gehörte. Das waren adlige Damen, meistens Töchter von Rittern oder Burgherren. Sie standen der Herrin als Zofe zur Seite und galten als Unterhalterin bei Festlichkeiten. Ein Burgfräulein führte ein angenehmes Leben, war stets gut gekleidet und musste keine niederen Arbeiten verrichten. Der Wert ihrer Schönheit war ausschlaggebend bei der Gattenwahl, die von den Herrschaften bestimmt wurde. Vielleicht nur ein Traumbild, aber es gefiel mir.

Bei jeder sich bietenden Gelegenheit schlängelten wir unsere Kinderkörper den spiralförmigen, felskalten engen Gang zur Turmspitze hoch, wo uns die Welt zu Füßen lag. Auch als der Turm nach 1961 holzüberdacht wurde und zum Beobachtungspunkt gen Westen von Grenztruppen besetzt gehalten war, schlüpften wir ins „Wachstübchen“, denn über den Besuch der Jungen Pioniere freuten sich die Grenzer, anstatt zu maßregeln.

Derartige Erinnerungen verblassen nie!!!

                         

Heute kann man sich sogar burgfräulich gekleidet im Rittersaal trauen lassen, sich den Ehegatten selbst erwählen und ein zünftiges Gelage veranstalten.
                         

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