Dienstag, 3. Juli 2018

Kirmesleichen





3.LUCYTRÄUME
Ein Sonntagmorgen, den ich eigentlich verpennen wollte. Doch das Handy vibrierte, summte und riss mich aus dem Schlaf. Ich hatte nichts zu versäumen und wollte gleich vom Bett aus an den Mittagstisch rutschen. Maren war bei Tim und Mama wusste, dass ich Ruhe brauchte.
Eine rauchige Frauenstimme ließ mich hochschrecken. So gar nicht die Lucystimme, die ich kannte. „Hey Ron, stecke in argen Schwierigkeiten. Brauche einen ADAC- Abschleppdienst. Ist alles sehr peinlich, aber wahr. Habe einen Wochenendtrip in meine alte Heimat gemacht. Bin irgendwie in schlechte Gesellschaft geraten! Man hat mich bestohlen. Die Brieftasche mit sämtlichen Dokumenten, den Kreditkarten und meinem Bargeld sind weg. Meine Lieblingslederjacke ist auch unauffindbar. Kann nicht einmal die Pension bezahlen und traue mich auch nicht, die Heimfahrt ohne Führerschein anzutreten. SOS!!!“
Bewahre die Ruhe! Die Hauptsache ist doch, dass du ok bist. Werde in etwa drei Stunden mit unserem Pick up in Hamburg sein. Wo finde ich dich?“
„Bin in einer kleinen Pension in der Deichstraße untergeschlüpft. Ganz in der Nähe meines einstigen Elternhauses, eine malerische althamburgische Straße. Du findest mich im „Deichgraf“ Nr.42.“
Ein starker Kaffee und Spiegeleier mit Speck machten mich augenblicklich fit. Rasch bestieg ich mein Fahrzeug, um Lucy zur Hilfe zu eilen.
Besorgnis und Zorn stiegen in mir auf, als die Navistimme verkündete: “Sie haben ihr Ziel erreicht!“
Auf der Rückfahrt forderte ich Aufklärung.  „Wie konnte das nur passieren?“
„Hatte Heimweh! Wollte abschalten und habe mich zum Abendessen  in einen Biker- Club begeben. Der Typ an meinem Tisch machte einen harmlosen Eindruck und wir haben uns ganz nett unterhalten. Bald stellte sich heraus, dass ich in einem übler Schuppen gelandet war, völlig verqualmt vom Zigarettenrauch, der meine Augen zum Brennen brachte. Essen war lauwarm, abgewrackte Gestalten gaben sich ein Stelldichein. Es waren auch Frauen mit von der Partie. Die Musik hämmerte in meinen Ohren. Einige tanzten. Später laberte Paul Dünnschisskomplimente. Wir vergnügten uns mit mehreren Drinks, Martinigemisch, die die Stimmung anheizten. Plötzlich drehte sich in meinem Schädel alles, ich verlor die Gleichgewichtskontrolle und wachte erst in meinem Pensionsbett verkatert wieder auf. Erinnere mich noch, wie ich mich alleine durch die Menge rausgeschlängelt habe. Nehme an, dass der Drink nicht astrein war.“
„Kein Sexabenteuer?“, fragte meine Eifersucht.
„Dazu wäre ich gar nicht mehr in der Lage gewesen!“, antwortete sie beschämt.
„War bereits im hiesigen Polizeirevier und habe Anzeige erstattet.“
Nach diesen Worten erstarb unser Gespräch.
Als ich Lucy nebst Motorrad in Niederorschel abgesetzt hatte, rollte ein Dankeschön über ihre Lippen.
„Es ist gut zu wissen, dass man Freunde hat. Du hast einen Wunsch frei!“
„Wie wäre es, wenn wir die nächste Bikertour gemeinsam unternehmen?“
„Tolle Idee! Bis morgen! Muss mich erst einmal ausschlafen und den erneuten Schock überwinden.“
Aus dieser Frau wurde ich einfach nicht schlau. Sie wechselte die Klamotten wie ihren Lebensstil. Einmal hüllte sie den reizvollen Körper in Leder, ein anderes Mal in Jeansklamotten oder in einen Lady-Look. Ihre Lieblingsfarbe war Rot. Ein Kleidungsstück, Accessoires, wie Schmuck, Schuhe, Tasche, passte sie mit Vorliebe dem Farbton an. Kein Zweifel daran, dass Lucy eine recht individuell geprägte Persönlichkeit darstellte. Obwohl ich sie anregend sinnlich fand, konnte ich nie bei ihr landen. Sie gab keinem von uns eine Chance, ihr Herz zum Beben zu bringen, strahlte eine kalte Leidenschaft aus und bewahrte Distanz.
Inzwischen war es Abend geworden. Maren, Tim und Mama warteten bereits ungeduldig auf meine Rückkehr und hatten Neuigkeiten parat.
„Wir basteln gerade an den Hochzeitsplänen. Ein Junggesellinnen- und Junggesellenabschied müssen sein!“ ,betonte Maren. Dann wurde noch über  Zusammenziehen und die Lokation, in der man die Feier zum Event werden lassen wollte, beraten.
Ich fragte mein Schwesternherz: „Warum hast du es mit einem Mal so eilig, unter die Haube zu kommen. Willst du dich vor dem Frauenmörder, der immer noch unerkannt herumläuft, durch Heirat in Sicherheit bringen?“
„Wenn ich ausgezogen bin, dann hast du endlich genügend Platz, dir auch eine Braut ins Haus zu holen!“, konterte sie.
Auf jeden Fall machte mich diese freudige Botschaft glücklich und lenkte meine Gedanken vom Lucyzwischenfall ab.
Wie mir schien, wurde es immer unruhiger um mich herum. Der Mordfall und Lucy ließen mich nicht los.
Morgen würde ich mehr erfahren, denn da war ich mich mit dem Kripomann verabredet. Wir hatten den Ecktisch im „Schwarzen“ für 20.00 Uhr reserviert.
So mit der Zeit war aus Eigennutz auch Freundschaft geworden. Heute wollte ich mehr über die Ermittlungen erfahren und mit ihm eine Motorradtour klar machen.  Uns bremsten keine Familienpflichten aus, lediglich den beruflichen Aufgaben konnten wir uns nicht entziehen.
Lässig, etwas müde drein lächelnd, betrat Hauptkommissar Jannik die Eckkneipe. Seine sanften Augen suchten mich. Wir schüttelten uns die Hände. Unsere Begrüßung wurde mit neugierigen Mienen und forschenden Blicken bedacht. „Stehst du neuerdings auf Männer?“, bemerkte ein Bekannter im Vorbeigehen. Wir ignorierten ihn und bestellten ein Pils.
„Bei uns ist der Teufel los, seit wir den Mord am Hals haben. So ein scheußliches, undurchsichtiges Verbrechen hatten wir lange nicht zu bearbeiten. Wir schweben nur im Wenn und Aber, manchmal droht mein Kopf vor zu vielen Ideen zu explodieren. Es will einfach nichts so richtig zusammenpassen. Habe heute mit dem Staatsanwalt simuliert, alles uferte im Nichts aus. Bin froh, jetzt abschalten zu können!“
„Prost, auf uns!“, versuchte ich ihn abzulenken.
„Was hältst du davon, mit mir im Juli zum Motorrad Grand Prix Deutschland zu düsen?  Wird bestimmt wieder PS-stark berauschend auf dem Sachsenring werden. Diese Rennmaschinen reißen mich immer wieder vom Hocker!“ „Wenn es mein Dienstplan erlaubt, bin ich dabei!“
Dann quatschten wir über unsere Karren, Land und Leute.
„Kannst mich ja mal am Wochenende in Nordhausen besuchen, seile mich dann zu einer kleinen Spritztour in den Harz ab!“ „Momentan schweben wir in den Hochzeitsvorbereitungen. Man hat halt so seine Verpflichtungen. Bestimmt klappt es ein anderes Mal. Schau, bis bald!“
„Man trifft sich!“
Duderstadt gehört wirklich zu den Perlen des Eichsfeldes, das hatte ich schon bei der Grenzöffnung festgestellt. In der Innenstadt reihen sich mehr als 600 farbenprächtige Fachwerkhäuser aneinander und zwei einzigartige Kirchen krönen die Stadt. Bald würde Maren sich dort ihr Nest bauen.
Vielleicht war es ja auch für mich an der Zeit, über Familienplanung nachzudenken. Seit meine Schwester und Tim die Hochzeitsglocken einläuteten, hatte ich beobachtet, wie Lucy das junge Paar recht neidvoll beäugte. Ob sie wohl darüber nachdachte, das eigene Singledasein auf den Prüfstand zu stellen? An den Männern, die ihr Herz erobern wollten, fehlte es absolut nicht. So einige schickten ihr begehrenswerte Blicke hinterher.
Erst gestern wieder, als Manni einen auf seinen Geburtstag ausgegeben hatte, bin ich in das Bewunderungsfieber geraten, als diese Frau erschien.  Ihre blondleuchtende Mähne, das Figur betonte rote Stretchkleid und die kurze Jeansjacke wirkten magisch auf mich.
Nüchtern, wie ich war, hörte ich meine innere Stimme, die mir befahl: „Schnapp dir dieses Prachtweib! Man muss nicht warten, bis einen die Liebe findet. Packe die Gelegenheit einfach beim Schopfe!“
So wundervoll wie diese Feier und die sternenklare Nacht auch waren, ich fiel um Mitternacht unglücklich müde und unbefriedigt in mein Bett.
„Warum hatte Lucy mich abblitzen lassen? Sie war mein letzter Fahrgast und vieles hätte sich zwischen uns so allmählich entwickeln können. Mein Begehren endete genau wie die bisherigen Polizeiermittlungen im Nichts.
Maren wurde von Tim beschützt, Mama ging bei Dunkelheit nicht mehr aus dem Haus, aber wer passte auf Lucy auf? Mir wurde warm ums Herz, als mir vorschwebte, ihr Geleitschutz geben zu können. Wie hatte meine Schwester doch so schön gesagt: „Ich mache Platz…!“
Als Frau an meiner Seite konnte ich mir die Kumpellady gut ausmalen. In meinem tiefsten Inneren begehrte ich sie schon seit geraumer Zeit. Mein Geist drängte danach, mehr über Lucy zu erfahren. Hatte ihre Seele eine Heimat wie die meine? Hatte sie eine glückliche Kindheit, eine unbefleckte Jugend? Kannte sie ein harmonisches Familienmiteinander?
Mit einem Mal war ich bereit, mein Leben mit ihr zu teilen. Bisher verband uns nur Freundschaft. Wir gingen miteinander um wie gute Kollegen. Wir empfanden füreinander Sympathie und der eine vertraute dem anderen. Wir brachten uns gegenseitig Achtung und Respekt entgegen. Es war diese Art von Beziehung, die ich auch zu den anderen Angestellten hatte. Mein Führungsprinzip unterlag den Regeln: Keiner darf bevorzugt werden! Keine Liebeleien am Arbeitsplatz! Da gab es kaum Raum für Leidenschaft oder Liebschaften. Diese Grundsätze irritierten mich augenblicklich.“ Oft geht das Herz andere Wege, als der Verstand!“,sagte ich zu mir selbst,
Anruf in Duderstadt! „Hey, Schwester, du bist zwar die Jüngere von uns beiden, hast aber mehr Erfahrung als ich im Liebesleben. Würde gerne mit dir über Herzprobleme reden. Hast du Zeit für mich? Es brennt!!!“
„Grüß dich, bin wohl mal wieder deine Notfallnummer. Sag nur, du hast dich  ernsthaft verknallt? Ist ja geil! Kenne ich dein Superweib? Wieso hast du nicht sie angerufen?“ „Momentan ist das noch eine brisante Angelegenheit, die man nicht so einfach ins Mikro hauchen kann. Komm doch heute Abend zu einem Geschwisterkuschelstündchen!“ „Zu Befehl, Boss! Passt gut! Tim ist mal wieder mit seinen Sportfreunden auf dem Tennisplatz. Sagen wir um 19.00 Uhr?“ „Super, du bist doch neben Mama die Frau, mit der ich die bisher längste Beziehung meines Lebens hatte!“ Ihr Lachen beendete das Gespräch.
Maren ging mir oft als Kind oder Teenager mächtig auf den Keks, weil ich zum Animateur bestimmt wurde, wenn unsere Eltern im Geschäftsstress standen.
Aber wir lieben uns, weil wir eben Geschwister sind. So eine Zweisamkeit verläuft nicht immer harmonisch. Man braucht sich, man verkracht sich und verträgt sich wieder. Ich war stets der Ältere, der nachzugeben hatte. Wir zogen mit Federschmuck gemeinsam auf den Kriegspfad, klauten Nachbars Äpfel oder rauchten Friedenspfeife.
Wir lieben beide Nudelauflauf und leiten das elterliche Unternehmen.
Plötzlich ein Geistesblitz! Ich entschloss mich, heute für uns  zu kochen.
Der Duft zog bereits durch das ganze Haus, als Maren die Treppe hochgesprungen kam. „Das  riecht ja super lecker! Zu Hause ist eben zu Hause. Ganz wie früher, wenn wir zwei am Herd experimentiert haben. Du bist ein Bruderschatz. Von solchen Kerlen können doch die Mädel nur träumen!“
Wir schwebten beim Essen in Erinnerungen, an die nur wir uns erinnern konnten und über die nur wir im Stande waren zu lachen.
„Ausgelacht!“, meldete sich Marens Neugierde. Sie ließ sich in unseren alten Schaukelstuhl plumpsen, wippte hoch und runter, schmollend nachdenklich. „Schieß los! Hast du denn endlich den Sinn des Lebens aus Fortpflanzungssicht ins Auge gefasst? Hast du etwa schon Angst vor dem Aussterben? Vielleicht kannst du es ja nicht verkraften, dass ich in Sachen Liebe auf der Überholspur bin. Raus mit der Sprache! Wer hat deine Gefühlswelt ins Schleudern gebracht?“
„Was hältst du von Lucy?“ „Ich glaube es nicht! Da spaziert ihr schon so ein paar Jährchen nebeneinander her und erst jetzt spürst du, dass sie eine tolle Person ist? Aber so leicht wirst du sie nicht einfangen können. Frauen wollen schließlich erobert werden. Äußerlich sexy, innen manchmal Tropfsteinhöhle! Glaubst du, dass sie auf dich gewartet hat?“
„Manchmal schon! Sie spielt mit ihren Reizen und meinen Gefühlen!“ „Sie hat in meiner Gegenwart noch nie von dir geschwärmt.“
„Erzähle mir alles, was du von ihr weißt, ihr seid doch gute Freundinnen!“
„Lucy bricht einfach das Blondinen-Image, ist bildschön, hat ein Superhirn, ist cool und wir beide leisten eigentlich das, was man auch  euch Männern zutraut. Nichts ist ihr peinlich. Für einen guten Spaß legt sie jede Scham ab. Neulich ist ihr mal ein Pups rausgerutscht, da hat sie sich zwischen ihre Beine gebeugt und mit dem eigenen Knackarsch geschimpft!“ Wir brüllten ungewollt ein Lacher in den Raum.
„Ich bewundere sie. Mannpower und Frauengrazie vereint in einer Person. Lucy ist Lucy, immer und überall. Ihr ist vollkommen egal, was andere von ihr denken oder über sie reden. Sie lebt ihr Leben nach ihrem ganz persönlichen Geschmack und macht nicht viele Reden über sich selbst. Neulich gab sie zu, dass sie Flugangst hat und deshalb lieber mit dem Motorrad in den Urlaub düst. In ihren vier Wänden hopst sie locker leger auch mal in Jogginghosen rum, wenn sie vor dem TV abhängt oder im Fitnessstudio powert. Viele steuern ihr Leben im Sinne der Karriere, wollen hoch hinaus, Lucy sucht nur ihre Zufriedenheit!“
„Hat sie außer dir noch enge Freundschaften?“ „Mit Arno und seiner Familie ist sie ab und an zusammen, ansonsten teilt sie ihren Alltag mit uns und ihrer Arbeit. Wie es scheint, hat sie keine Angst vor Einsamkeit und Langeweile.“
„Meinst du nicht, dass aus Kumpelei Liebe werden könnte? Tausendmal berührt, tausendmal ist nichts passiert …!“ „Das klingt ja wie der helle Wahnsinn. Auf diese Idee, Lucy und du ein Paar, wäre ich nicht mal in hundert Jahren gekommen. Schade, dass deine Sexhormone nicht schon früher in diese Richtung gekreist sind. Vielleicht hätten wir ja gar Doppelhochzeit feiern können, so ganz firmenvertraut. Lass dir eine gute Eroberungsstrategie einfallen!“
Wie vom Blitz getroffen, schnellte Maren aus ihrem Schaukelstuhl. „Mama hole den Champagner und komme rauf, dein Sohn hat seine Traumfrau entdeckt!“
Plötzlich hatten beide verwirrend viele Gedanken und Ratschläge für mich parat. Mama begannen die Augen zu funkeln: „Ron, ich wusste, dass du zum Familienmenschen und nicht zum Junggesellen geboren bist. Sage Lucy, was du für sie empfindest, werbe um sie, erobere ihr Herz, setze ihr Schmetterlinge unter die Haut. Jede Frau sehnt sich nach Liebe und einem bodenständigen Partner. Ich mag sie. Das Berufsblau verschafft ihr Respekt und steht für ihr handwerkliches Geschick. Das Ausgehrot spricht für Sinnlichkeit und Selbstbewusstsein. Es gibt diese Frauentypen nur selten. Gemeinsam hättet ihr unendliche Entfaltungsmöglichkeiten. Ehrlich gesagt, ich bin von deiner Wahl angetan. Ein Wunschtraum von Schwiegertochter!“
Maren fuhr fort: „Hast du sie schon mal angebaggert? Zu deiner Geburtstagsfeier war sie dir doch ganz schön nah. Sicher ist, dass meine Freundin in keiner festen Beziehung hängt. Manchmal klebte sie förmlich an mir. Seit ich mit Tim zusammen bin, hält sie mehr Abstand. Vielleicht braucht sie gerade jetzt, wo wir heiraten wollen, jemanden zur Unterhaltung oder gar fürs Herz?“ „Du musst das ja am besten wissen!“
Somit waren die Weichen gestellt. Frauengenehmigt!
„Viel Glück, geh die Sache besonnen an, was wachsen soll, braucht Zeit! Baggere nicht gleich mit der großen Schaufel. Unerschrockene Frauen haben oft eine dünn besaitete Seele!“ Damit war alles gesagt.
In meinen Vorstellungen kam ich ihr immer näher. Diejenige, mit der Lucy die meiste Zeit verbrachte, war sie selbst. Locker befreundet war sie eigentlich mit jedem von uns. Wir fanden sie alle sympathisch und vertrauensvoll. Das Band zwischen ihr und Maren wurde gleich am ersten Tag geknüpft. Unsere Mädels fühlten sich von Frau zu Frau tabuloser. Sie standen sich in vielen Lebenslagen näher. Frauen brauchen eben Freundinnen, um weibliche Geheimnisse zu teilen, hemmungslos zu lachen, verrückte Dinge zu tun. Einmal kamen beide in einem roten Leinenoverall, so ganz nach Lady-Chic, zur Arbeit, um in dieser Männerdomäne aufzutrumpfen.
Meine Fantasien begannen Purzelbäume zu schlagen. Maren, Lucy, Tim und ich wären doch ein geniales Familienunternehmen. Jeder würde für den anderen einstehen und die Kohlen aus dem Höllenfeuer holen. Eine solche Frau war es wert, beschützt zu werden.
Der Zufall kam meinem Wunschdenken zur Hilfe und mir wurde schlagartig bewusst, dass ich den Eroberungsfeldzug hier und jetzt beginnen konnte.
„Hey Ron, du Alleskönner, der Motor meiner BMW singt ein bedenklich klingendes Lied. Könntest du mal nachschauen, woran das liegt?“ „Hallo Lucy, schön von dir zu hören. Bin im Leerlauf, kannst gleich heran rollen. Ich warte auf dich.“
Eine freundschaftliche Umarmung ließ mich ihren Körper spüren, elektrisierender als sonst. Das war Hirnsteuerung!
„Stelle deinen Liebling gleich in die Halle und lass‘ mal den Motor aufheulen! Klingt nach Vergasermacke! Kein Problem! Das kriegen wir schon hin!“
Mit wenigen Handgriffen und technischem Geschick hatten wir den Motor bald wieder im Normaltakt.
„Komm noch für ein Kaffee-Schwätzchen mit in den Garten, wenn du Zeit hast. Erzähle mal von deiner Prag-Tour, war ewig nicht in der Goldenen Stadt. Ich braue uns einen Mokka und du kannst das Geschirr rausholen. Im Kühlschrank findest du noch Mama-Kuchen mit Schokolade!“ „Prima! Den mag ich am liebsten!“
Eilig stellte sie die Kaffeepötte auf den Tisch und ich platzierte mich verkehrt herum auf dem Stuhl, umklammerte die Rückenlehne, atmete tief durch und betrachtete Lucy. Die Gartenluft war frisch, wohltuend, beflügelte Körper und Geist. Ein berauschendes Gefühl machte sich breit. Das lag nicht nur daran, dass wir uns begegneten, sondern auch an den kleinen Dingen des Miteinanders, die mit einem Mal groß an Bedeutung wurden. Etwa wie Lucy lächelte, trotz Abgespanntheit.  Wie sie mich mit ihren leuchtenden Augen musterte. Wie sie mit Lebhaftigkeit von ihrer Fahrt erzählte oder wie sie mich ganz selbstverständlich an sich drückte, wenn sie kam bzw. ging. Während ich simulierte, schloss sie für eine Weile die Augen und genoss die sonnige Entspannung. Wie gerne hätte ich mit meinen Lippen ihren Erdbeermund geküsst.
„Ein wunderschönes Fleckchen Erde hier, Randlage, verkehrsarm, Bergidylle. So einen reizvollen Blick bietet mir mein Opa-Häuschen nicht, nur Hauptstraße und Gartengrün. Seit ich vor zwei Jahren von Hamburg weg bin, ist aus der Wasserpflanze eine Gebirgsziege geworden. Fühle mich aber gut hier und habe in Thüringen mein neues Zuhause entdeckt, wo jedem auch der andere am nächsten ist!“
„Wir sind seit Generationen hier in Heiligenstadt verwurzelt. Eine Frage so ganz nebenbei, vom Sommerwetter inspiriert: Was liegt bei dir am Wochenende an?“ „Ausspannen, exotisch frühstücken, Fitness-Stündchen und faulenzen!“ „Hättest du Spaß an einer Biker-Tour zum Kyffhäuser? Dieses tolle Wetter muss man doch ausnutzen.“ „Die Burg habe ich bisher nur aus der Ferne gesichtet. Hat da nicht der Rotbart regiert?“ „Kaiser Barbarossa sitzt sogar noch auf seinem Thronsessel und wartet bestimmt auch auf uns, genau wie auf die Wiederkehr seines Reiches!“ „Klingt verlockend!“
„Wir starten am Samstag, um 11.00 Uhr, nach dem Ausschlafen, ist das okay?“ Anfangs zögerlich, doch dann erlebnislustig, sagte sie zu. „Hole dich ab und freue mich jetzt schon auf unsere Tour!“ „Danke für die Reparaturhilfe und den Mokka, der hat meine Lebensgeister wieder geweckt.“
Kaum hatte sie ihre letzten Gedanken ausgesprochen, sauste sie auch schon um die Ecke.
Dem Sonnabendmorgen, dem Sonnenaufgang, dem Barbarossakönig und dem Ausflug mit der Trucker-Braut sah ich ungeduldig und erwartungsvoll entgegen. Ich war so aufgewühlt wie in den Kinderjahren, als Weihnachten und mein Geburtstagsfest vor der Tür standen. Minutengenau stoppte ich die Maschine vor Lucys Haustür in Niederorschel. Kaum hatte ich geläutet, schaute mir ein frech wirkender Mädchenkopf aus dem oberen Fenster entgegen. Sie hatte ihre langen blonden Haare zu vielen winzigen Zöpfen geflochten, die bei jeder Drehung um ihren Kopf wirbelten.
„Hallo Ron, es kann gleich losgehen, muss nur noch die BMW aus der Garage holen!“
Ledergestylt ließ sie in weniger als fünf Minuten ihre Maschine aufheulen. „Mir nach!“, schrie ich im Anflug. „Hast ja deinen Rotblitzhelm aufgesetzt, echt toll, damit verliere ich dich bestimmt nicht aus den Augen!“
Vergnüglich düsten wir Richtung Nordhausen, Sondershausen, Berga Kelbra und dann zum Denkmal. Wir hatten eines der wenigen Sommersonnenwochenenden erwischt, das nicht von Regenschauern durchkreuzt wurde. Der wolkenlose Himmel strahlte über uns, so als wollte er das Tor zum Glück öffnen. Ein leichter Windhauch verlieh mir Flügel, Lucy im Schlepptau.
Sagenhaft umwoben und reizvoll war die Landschaft im Naturpark Kyffhäuser, die wir gemütlich durchstreiften. Als wir auf der Turmkuppel des Gebirges das imposante Denkmal erblickten, kam Abenteuerlaune auf. Die  Fahrt glich einer Bergrally, kurvenreich spektakulär. Manche Biker suchten regelrecht den Kick und manövrierten sich durch gefährliche Überholmanöver an uns vorbei. Die Geschwindigkeitsbegrenzung von 50 km/h ignorierend. Ich registrierte im Rückspiegel, dass meine Partnerin einen sicheren Fahrstil hatte und den Risikobogen nicht überspannte. 
Nachdem wir die Motorräder gut gesichert auf dem Parkplatz abgestellt hatten, im Schatten einer Urgroßvaterbuche, durchschritten wir erwartungsfroh das Eingangsportal und entrichteten den Wegezoll.
Lucy sprühte vor Begeisterung. „Warum war ich eigentlich noch nie auf dem Kyffhäuser? Der Berg, eingebettet in den Naturpark, bietet eine gigantische Aussicht vom Harz bis zum Thüringer Wald. Echt grandios!“
„Du warst noch nie hier, weil ich dir den Weg erst zeigen musste. Das kürzlich restaurierte Denkmal ist zum Besuchermagneten geworden. Die im 11. Jahrhundert errichtete Reichsburg zählt zu den größten und stärksten Burganlagen Deutschlands.   Schau dir dieses Getümmel an!“
Vor Ehrfurcht fast erstarrt, starrte meine Begleiterin zum Reiterstandbild Kaiser Wilhelm I. auf.
Wir schlenderten lässig und froh gestimmt an den bunten Menschentrauben vorbei und verharrten vor dem gewaltig mächtigen Rotbart Barbarossa, überdimensional in Stein gemeißelt.
Vor dem Burgbrunnen waren bemerkenswert  viele Touristen versammelt, von der Magie angezogen. „Wirf einen Münzstein in das Brunnenloch, es ist das welttiefste dieser Art. Bis er unten eintaucht, musst du dir etwas gewünscht haben. Wenn sich das Wasserloch verdunkelt, haben die Brunnengeister dein Begehren aufgenommen!“ „Nun muss ich aber lachen, das klingt ja wie im Märchen.“ „Alles was hier einmal war, ist für uns doch märchenhaft.“
Danach strömten die Besucher in alle Richtungen, zum Herrschersitz, zur Ausstellung, in das Museum oder in das Wappensaalrestaurant.
Zum Abschluss erklommen wir die 247 Stufen zur Aussichtsplattform. Kulturbefriedigt entschlossen wir uns, am Stausee Hohenfelden einzukehren.
Im Ferientrubel fanden wir am Badestrand ein idyllisches Plätzchen, an dem wir einen Bratwurstimbiss mit Kartoffelsalat, deftig schmackhaft, einnahmen. Gesättigt und guter Dinge ließen wir uns unbeschwert ins Gras fallen, klappten die Augenlider runter und tauchten in das Wochenendvergnügen ein, das uns von allen Seiten entgegen lachte. „Endlich Badewetter! Endlich Sommerwärme! Endlich Seelenbaumeln!“,frohlockte ich.
An Lucys Seite zu liegen schreckte meine Gefühle erneut auf, ich spürte Wärme überall, ein Kribbeln im Bauch, Schmetterlingsflügel im Herzen und ihre Erdbeersüße auf meinen Lippen. Angriffslustig zog ich sie hoch.
„Lass uns einen kleinen Spaziergang zum Campingplatz machen, sonst fange ich unter meiner Ledermontur noch an überzukochen!“ Ohne Einwand ließ sie zu, dass ich ihre Hand fasste und die Führung übernahm. Meine Blicke und Gedanken blieben an ihr haften. Diese Frau wirkte in jedem Look anziehend. Heute kam sie mir romantisch und verspielt vor mit den Wipp-Zöpfchen, so richtig zum Anbeißen. Ich ließ es vorerst aber beim Händchenhalten.
„Ein Campingurlaub wäre sicher auch recht abenteuerlich. Vielleicht könnten wir ja mal an diesem Ort die Zweisamkeit feiern. Wenn man auf den Luxus verzichtet und die Natur zum Lebenszentrum macht, kann das schon recht erholsam werden.“
„Lieber nicht! Bei der nächsten passenden Gelegenheit unternehme ich mit dir eher eine kurvenreiche Harzreise, da kannst du mich in die Barbarossahöhle entführen. Zu viel Nähe mag ich nicht!“
Auf dem Rückweg zum Stauseeparkplatz blieben wir sinnend am Uferrand hocken. Lucy kreuzte die Beine unter sich und zündete sich in entspannter Haltung die Genuss-Zigarette an, blies mir, inzwischen Nichtraucher, den Qualm um die Nase, als wolle sie mich umnebeln. Nun wurden wir beide vom Rauch umflutet, der uns in eine Traumwelt fortriss.
„Warum lebst du eigentlich mit keinem Mann zusammen, wo du doch eine Klassefrau bist? Macht Alleinsein nicht manchmal auch einsam?“
Bevor sie antwortete, sog sie die frische Tagesluft ganz tief ein, um sich für eine ehrliche Antwort stark zu machen. „Mir geht es gut, ich bin zufrieden. In meinem Arbeitsalltag finde ich Erfüllung. Das genügt mir. Ich habe gelernt, meine eigenen Glücksprioritäten zu setzen. Wenn ich mich mit allen Sinnen lebendig fühle, dann lebe ich, genauso, wie ich es mag. Ungebunden zu sein, bedeutet Unabhängigkeit, Freiheit und ein geringes Maß an Risikobereitschaft.“
Damit hatte sie mir ihren Standpunkt klar gemacht, der so gar nicht in meine Zukunftspläne passte. Gefühlsmäßig war ich nah an ihr dran, verstandsmäßig jedoch weit entfernt von ihrer Lebensphilosophie.
Die Zweisamkeit brachte uns dennoch Erfüllung und so landeten wir in meinem Gartenstraßenbett, wo sich unsere Körper suchten, abtasteten und fanden, während sich die Gefühle vereinten. Ich spürte in dieser ersten Nacht, dass Lucy auf keine feste Intimbeziehung aus war. Ihr Höhepunkt war nicht der meine. Diese Leidenschaft, die sie mir zeigte, fühlte sich irgendwie kalt an. Mit Liebe hatte das nur wenig zu tun. Für sie war alles nur ein körperlicher Akt.
„Guten Morgen du Schöne, was darf ich dir zum Frühstück servieren?“ Sie blinzelte sichtlich irritiert in den hellen Vormittag. Ihre Augen schienen zu erschrecken, als sie meinen nackten Körper erblickte. „Es war keine aufregende, aber eine hoffnungsvolle Nacht mit dir gewesen. Danke!“
Lucy stemmte sich hoch, lehnte sich in die Kissen und fragte zögerlich: „Was soll das hier mit uns beiden? Bin ich etwa freiwillig in dein Bett gestolpert? Muss aus lauter Übermut und Gefühlsduselei passiert sein. Entschuldige!“
Jetzt machte sie eine ausladende Geste, wobei sie sich automatisch die Bettdecke über die bloße Haut zog. Offensichtlich konnte sie ihre Nacktheit im hellen Tageslicht nicht so ausleben wie ich. Hatte sie ein Natürlichkeitsdefizit? War ihr die Situation peinlich?
„Ihr Thüringer seid ein gastfreundliches Volk, das Freunde wie Familienmitglieder herzlich aufnimmt.“
Sollte das ein Erklärungsversuch sein? Er stimmte mich recht nachdenklich. Lucy beeilte sich, die Motorradkluft raffend, ins Bad zu kommen. Wenig später stand sie entschlossen vor mir. „Sorry Ron, muss wohl schwach geworden sein. Die Hitze hat uns sicher etwas kopflos gemacht. Tschüss bis Montag!“ Dann nahm sie der Morgenwind mit sich fort.
Mein Glücksrad drehte sich plötzlich rückwärts. Meine Hände klammerten sich an der Tischkante fest, die Fassung suchend. Ich säuselte vor mich hin, in den leeren Raum: „Entschuldige, dass ich die Zeichen deiner Zuneigung falsch gedeutet habe! Entschuldige, dass ich meinen Gefühlen Raum gegeben habe! Entschuldige, dass ich dich liebe!“
Sie war bereits auf dem Fluchtweg, als ich immer noch im Schlafzimmer herum stolperte, orientierungslos, fassungslos, zutiefst entehrt. Der Himmel war klarer, als meine Beziehung zu Lucy. Die Sonne funkelte heller, als ihre Abschiedsaugen. Ich hatte den Kampf um sie verloren, bevor er überhaupt so richtig begonnen hatte. Wenn man einen Menschen liebt, dann lässt man ihn gelten, so wie er ist und wie er sein will. Somit ließ ich Lucy wieder in die Kumpelklamotten rutschen. Wenigstens konnte ich mich noch über das Liebesglück von Maren und Tim freuen.
Eine Woche nach dieser Abfuhr überfiel mich ein ominöser Traum. Ich spazierte locker, glücklich verliebt mit Lucy, Hand in Hand am Meer entlang. Zukunftsvisionen besetzten uns. „Sag mal Schatz, wie viel Kinder wünschst du dir eigentlich? Es wird Zeit für die Familienplanung, sonst sterben die Hausers noch aus!“ „Mit einem Nachkömmling wäre ich schon zufrieden, denn die Mutterrolle auf Lebzeit liegt mir nicht.“ „Ach, sei doch nicht so genügsam. Mit dir will ich mindestens drei Sprösslinge haben, alle mit Blondschopf und Erdbeermund!“
Plötzlich riss sie sich los und sauste geradewegs auf die herannahenden Wellen zu. „Fang mich, wenn du kannst!“ Fasziniert von ihrer Grazie, nahm ich scherzhaft die Verfolgung auf. Die Flut kämpfte sich immer weiter zum Land vor mit schnaubenden Wellenkämmen. „Komm zurück, ein Ebenbild von dir würde mir ja schon genügen!“ In meiner Freude und Ausgelassenheit schien ich gar nicht zu bemerken, dass die Wellen über sie hinauswuchsen. Das blanke Entsetzen ins Antlitz gemeißelt, schrie ich ihr nach: „Bleibe stehen, ich bin gleich bei dir und rette dich!“ Meine Stimme erstarb und ihre Gestalt verblasste. „Du schaffst es nicht, sie zu halten!“, hämmerte es in meinem Schädel.
Dieser Tragödientraum ließ mich in der besagten Nacht keinen Schlaf mehr finden. Müde und deprimiert wälzte ich mich in der seidigen Bettwäsche hin und her, bis der Morgen den schwarzen Vorhang schloss und mich in die reale Welt zurückholte.
„Glück ist etwas, was man geben kann, ohne es zu haben.“, wusste schon Ricarda Huch (1864-1047).
Frauen wie sie schienen einer besonderen Spezies anzugehören. Beziehungen im Job funktionieren selten auf Dauer. Manchmal ticken weibliche Wesen auch gegen die Liebesuhr. Wenn Mann und Frau zusammen arbeiten, gibt es immer erotische Berührungspunkte. Mit derartigen Argumenten versuchte ich, mir meine Niederlage bei Lucy zu erklären. Mir kamen Zweifel auf, ob sie überhaupt die Bestimmung für eine Frau zum Heiraten hatte. Jedenfalls war es mir gelungen, in ihre Gefühlswelt einzudringen.