3.LUCYTRÄUME
Ein
Sonntagmorgen, den ich eigentlich verpennen wollte. Doch das Handy vibrierte,
summte und riss mich aus dem Schlaf. Ich hatte nichts zu versäumen und wollte
gleich vom Bett aus an den Mittagstisch rutschen. Maren war bei Tim und Mama
wusste, dass ich Ruhe brauchte.
Eine
rauchige Frauenstimme ließ mich hochschrecken. So gar nicht die Lucystimme, die
ich kannte. „Hey Ron, stecke in argen Schwierigkeiten. Brauche einen ADAC-
Abschleppdienst. Ist alles sehr peinlich, aber wahr. Habe einen Wochenendtrip
in meine alte Heimat gemacht. Bin irgendwie in schlechte Gesellschaft geraten! Man
hat mich bestohlen. Die Brieftasche mit sämtlichen Dokumenten, den Kreditkarten
und meinem Bargeld sind weg. Meine Lieblingslederjacke ist auch unauffindbar.
Kann nicht einmal die Pension bezahlen und traue mich auch nicht, die Heimfahrt
ohne Führerschein anzutreten. SOS!!!“
Bewahre
die Ruhe! Die Hauptsache ist doch, dass du ok bist. Werde in etwa drei Stunden
mit unserem Pick up in Hamburg sein. Wo finde ich dich?“
„Bin
in einer kleinen Pension in der Deichstraße untergeschlüpft. Ganz in der Nähe
meines einstigen Elternhauses, eine malerische althamburgische Straße. Du
findest mich im „Deichgraf“ Nr.42.“
Ein
starker Kaffee und Spiegeleier mit Speck machten mich augenblicklich fit. Rasch
bestieg ich mein Fahrzeug, um Lucy zur Hilfe zu eilen.
Besorgnis
und Zorn stiegen in mir auf, als die Navistimme verkündete: “Sie haben ihr Ziel
erreicht!“
Auf
der Rückfahrt forderte ich Aufklärung. „Wie
konnte das nur passieren?“
„Hatte
Heimweh! Wollte abschalten und habe mich zum Abendessen in einen Biker- Club begeben. Der Typ an
meinem Tisch machte einen harmlosen Eindruck und wir haben uns ganz nett
unterhalten. Bald stellte sich heraus, dass ich in einem übler Schuppen
gelandet war, völlig verqualmt vom Zigarettenrauch, der meine Augen zum Brennen
brachte. Essen war lauwarm, abgewrackte Gestalten gaben sich ein Stelldichein.
Es waren auch Frauen mit von der Partie. Die Musik hämmerte in meinen Ohren. Einige
tanzten. Später laberte Paul Dünnschisskomplimente. Wir vergnügten uns mit
mehreren Drinks, Martinigemisch, die die Stimmung anheizten. Plötzlich drehte sich
in meinem Schädel alles, ich verlor die Gleichgewichtskontrolle und wachte erst
in meinem Pensionsbett verkatert wieder auf. Erinnere mich noch, wie ich mich
alleine durch die Menge rausgeschlängelt habe. Nehme an, dass der Drink nicht
astrein war.“
„Kein
Sexabenteuer?“, fragte meine Eifersucht.
„Dazu
wäre ich gar nicht mehr in der Lage gewesen!“, antwortete sie beschämt.
„War
bereits im hiesigen Polizeirevier und habe Anzeige erstattet.“
Nach
diesen Worten erstarb unser Gespräch.
Als
ich Lucy nebst Motorrad in Niederorschel abgesetzt hatte, rollte ein Dankeschön
über ihre Lippen.
„Es
ist gut zu wissen, dass man Freunde hat. Du hast einen Wunsch frei!“
„Wie
wäre es, wenn wir die nächste Bikertour gemeinsam unternehmen?“
„Tolle
Idee! Bis morgen! Muss mich erst einmal ausschlafen und den erneuten Schock
überwinden.“
Aus
dieser Frau wurde ich einfach nicht schlau. Sie wechselte die Klamotten wie
ihren Lebensstil. Einmal hüllte sie den reizvollen Körper in Leder, ein anderes
Mal in Jeansklamotten oder in einen Lady-Look. Ihre Lieblingsfarbe war Rot. Ein
Kleidungsstück, Accessoires, wie Schmuck, Schuhe, Tasche, passte sie mit
Vorliebe dem Farbton an. Kein Zweifel daran, dass Lucy eine recht individuell
geprägte Persönlichkeit darstellte. Obwohl ich sie anregend sinnlich fand,
konnte ich nie bei ihr landen. Sie gab keinem von uns eine Chance, ihr Herz zum
Beben zu bringen, strahlte eine kalte Leidenschaft aus und bewahrte Distanz.
Inzwischen
war es Abend geworden. Maren, Tim und Mama warteten bereits ungeduldig auf
meine Rückkehr und hatten Neuigkeiten parat.
„Wir
basteln gerade an den Hochzeitsplänen. Ein Junggesellinnen- und
Junggesellenabschied müssen sein!“ ,betonte Maren. Dann wurde noch über Zusammenziehen und die Lokation, in der man
die Feier zum Event werden lassen wollte, beraten.
Ich
fragte mein Schwesternherz: „Warum hast du es mit einem Mal so eilig, unter die
Haube zu kommen. Willst du dich vor dem Frauenmörder, der immer noch unerkannt
herumläuft, durch Heirat in Sicherheit bringen?“
„Wenn
ich ausgezogen bin, dann hast du endlich genügend Platz, dir auch eine Braut
ins Haus zu holen!“, konterte sie.
Auf
jeden Fall machte mich diese freudige Botschaft glücklich und lenkte meine
Gedanken vom Lucyzwischenfall ab.
Wie
mir schien, wurde es immer unruhiger um mich herum. Der Mordfall und Lucy ließen
mich nicht los.
Morgen
würde ich mehr erfahren, denn da war ich mich mit dem Kripomann verabredet. Wir
hatten den Ecktisch im „Schwarzen“ für 20.00 Uhr reserviert.
So
mit der Zeit war aus Eigennutz auch Freundschaft geworden. Heute wollte ich
mehr über die Ermittlungen erfahren und mit ihm eine Motorradtour klar machen. Uns bremsten keine Familienpflichten aus,
lediglich den beruflichen Aufgaben konnten wir uns nicht entziehen.
Lässig,
etwas müde drein lächelnd, betrat Hauptkommissar Jannik die Eckkneipe. Seine
sanften Augen suchten mich. Wir schüttelten uns die Hände. Unsere Begrüßung
wurde mit neugierigen Mienen und forschenden Blicken bedacht. „Stehst du
neuerdings auf Männer?“, bemerkte ein Bekannter im Vorbeigehen. Wir ignorierten
ihn und bestellten ein Pils.
„Bei
uns ist der Teufel los, seit wir den Mord am Hals haben. So ein scheußliches,
undurchsichtiges Verbrechen hatten wir lange nicht zu bearbeiten. Wir schweben
nur im Wenn und Aber, manchmal droht mein Kopf vor zu vielen Ideen zu
explodieren. Es will einfach nichts so richtig zusammenpassen. Habe heute mit
dem Staatsanwalt simuliert, alles uferte im Nichts aus. Bin froh, jetzt
abschalten zu können!“
„Prost,
auf uns!“, versuchte ich ihn abzulenken.
„Was
hältst du davon, mit mir im Juli zum Motorrad Grand Prix Deutschland zu düsen? Wird bestimmt wieder PS-stark berauschend auf
dem Sachsenring werden. Diese Rennmaschinen reißen mich immer wieder vom Hocker!“
„Wenn es mein Dienstplan erlaubt, bin ich dabei!“
Dann
quatschten wir über unsere Karren, Land und Leute.
„Kannst
mich ja mal am Wochenende in Nordhausen besuchen, seile mich dann zu einer
kleinen Spritztour in den Harz ab!“ „Momentan schweben wir in den
Hochzeitsvorbereitungen. Man hat halt so seine Verpflichtungen. Bestimmt klappt
es ein anderes Mal. Schau, bis bald!“
„Man
trifft sich!“
Duderstadt
gehört wirklich zu den Perlen des Eichsfeldes, das hatte ich schon bei der
Grenzöffnung festgestellt. In der Innenstadt reihen sich mehr als 600
farbenprächtige Fachwerkhäuser aneinander und zwei einzigartige Kirchen krönen
die Stadt. Bald würde Maren sich dort ihr Nest bauen.
Vielleicht
war es ja auch für mich an der Zeit, über Familienplanung nachzudenken. Seit
meine Schwester und Tim die Hochzeitsglocken einläuteten, hatte ich beobachtet,
wie Lucy das junge Paar recht neidvoll beäugte. Ob sie wohl darüber nachdachte,
das eigene Singledasein auf den Prüfstand zu stellen? An den Männern, die ihr
Herz erobern wollten, fehlte es absolut nicht. So einige schickten ihr
begehrenswerte Blicke hinterher.
Erst
gestern wieder, als Manni einen auf seinen Geburtstag ausgegeben hatte, bin ich
in das Bewunderungsfieber geraten, als diese Frau erschien. Ihre blondleuchtende Mähne, das Figur betonte
rote Stretchkleid und die kurze Jeansjacke wirkten magisch auf mich.
Nüchtern,
wie ich war, hörte ich meine innere Stimme, die mir befahl: „Schnapp dir dieses
Prachtweib! Man muss nicht warten, bis einen die Liebe findet. Packe die
Gelegenheit einfach beim Schopfe!“
So
wundervoll wie diese Feier und die sternenklare Nacht auch waren, ich fiel um Mitternacht
unglücklich müde und unbefriedigt in mein Bett.
„Warum
hatte Lucy mich abblitzen lassen? Sie war mein letzter Fahrgast und vieles
hätte sich zwischen uns so allmählich entwickeln können. Mein Begehren endete
genau wie die bisherigen Polizeiermittlungen im Nichts.
Maren
wurde von Tim beschützt, Mama ging bei Dunkelheit nicht mehr aus dem Haus, aber
wer passte auf Lucy auf? Mir wurde warm ums Herz, als mir vorschwebte, ihr
Geleitschutz geben zu können. Wie hatte meine Schwester doch so schön gesagt:
„Ich mache Platz…!“
Als
Frau an meiner Seite konnte ich mir die Kumpellady gut ausmalen. In meinem
tiefsten Inneren begehrte ich sie schon seit geraumer Zeit. Mein Geist drängte
danach, mehr über Lucy zu erfahren. Hatte ihre Seele eine Heimat wie die meine?
Hatte sie eine glückliche Kindheit, eine unbefleckte Jugend? Kannte sie ein
harmonisches Familienmiteinander?
Mit
einem Mal war ich bereit, mein Leben mit ihr zu teilen. Bisher verband uns nur
Freundschaft. Wir gingen miteinander um wie gute Kollegen. Wir empfanden
füreinander Sympathie und der eine vertraute dem anderen. Wir brachten uns
gegenseitig Achtung und Respekt entgegen. Es war diese Art von Beziehung, die
ich auch zu den anderen Angestellten hatte. Mein Führungsprinzip unterlag den
Regeln: Keiner darf bevorzugt werden! Keine Liebeleien am Arbeitsplatz! Da gab
es kaum Raum für Leidenschaft oder Liebschaften. Diese Grundsätze irritierten
mich augenblicklich.“ Oft geht das Herz andere Wege, als der Verstand!“,sagte
ich zu mir selbst,
Anruf
in Duderstadt! „Hey, Schwester, du bist zwar die Jüngere von uns beiden, hast
aber mehr Erfahrung als ich im Liebesleben. Würde gerne mit dir über
Herzprobleme reden. Hast du Zeit für mich? Es brennt!!!“
„Grüß
dich, bin wohl mal wieder deine Notfallnummer. Sag nur, du hast dich ernsthaft verknallt? Ist ja geil! Kenne ich
dein Superweib? Wieso hast du nicht sie angerufen?“ „Momentan ist das noch eine
brisante Angelegenheit, die man nicht so einfach ins Mikro hauchen kann. Komm
doch heute Abend zu einem Geschwisterkuschelstündchen!“ „Zu Befehl, Boss! Passt
gut! Tim ist mal wieder mit seinen Sportfreunden auf dem Tennisplatz. Sagen wir
um 19.00 Uhr?“ „Super, du bist doch neben Mama die Frau, mit der ich die bisher
längste Beziehung meines Lebens hatte!“ Ihr Lachen beendete das Gespräch.
Maren
ging mir oft als Kind oder Teenager mächtig auf den Keks, weil ich zum
Animateur bestimmt wurde, wenn unsere Eltern im Geschäftsstress standen.
Aber
wir lieben uns, weil wir eben Geschwister sind. So eine Zweisamkeit verläuft
nicht immer harmonisch. Man braucht sich, man verkracht sich und verträgt sich
wieder. Ich war stets der Ältere, der nachzugeben hatte. Wir zogen mit Federschmuck
gemeinsam auf den Kriegspfad, klauten Nachbars Äpfel oder rauchten
Friedenspfeife.
Wir
lieben beide Nudelauflauf und leiten das elterliche Unternehmen.
Plötzlich
ein Geistesblitz! Ich entschloss mich, heute für uns zu kochen.
Der
Duft zog bereits durch das ganze Haus, als Maren die Treppe hochgesprungen kam.
„Das riecht ja super lecker! Zu Hause
ist eben zu Hause. Ganz wie früher, wenn wir zwei am Herd experimentiert haben.
Du bist ein Bruderschatz. Von solchen Kerlen können doch die Mädel nur träumen!“
Wir
schwebten beim Essen in Erinnerungen, an die nur wir uns erinnern konnten und
über die nur wir im Stande waren zu lachen.
„Ausgelacht!“,
meldete sich Marens Neugierde. Sie ließ sich in unseren alten Schaukelstuhl
plumpsen, wippte hoch und runter, schmollend nachdenklich. „Schieß los! Hast du
denn endlich den Sinn des Lebens aus Fortpflanzungssicht ins Auge gefasst? Hast
du etwa schon Angst vor dem Aussterben? Vielleicht kannst du es ja nicht
verkraften, dass ich in Sachen Liebe auf der Überholspur bin. Raus mit der
Sprache! Wer hat deine Gefühlswelt ins Schleudern gebracht?“
„Was
hältst du von Lucy?“ „Ich glaube es nicht! Da spaziert ihr schon so ein paar
Jährchen nebeneinander her und erst jetzt spürst du, dass sie eine tolle Person
ist? Aber so leicht wirst du sie nicht einfangen können. Frauen wollen
schließlich erobert werden. Äußerlich sexy, innen manchmal Tropfsteinhöhle!
Glaubst du, dass sie auf dich gewartet hat?“
„Manchmal
schon! Sie spielt mit ihren Reizen und meinen Gefühlen!“ „Sie hat in meiner
Gegenwart noch nie von dir geschwärmt.“
„Erzähle
mir alles, was du von ihr weißt, ihr seid doch gute Freundinnen!“
„Lucy
bricht einfach das Blondinen-Image, ist bildschön, hat ein Superhirn, ist cool
und wir beide leisten eigentlich das, was man auch euch Männern zutraut. Nichts ist ihr
peinlich. Für einen guten Spaß legt sie jede Scham ab. Neulich ist ihr mal ein
Pups rausgerutscht, da hat sie sich zwischen ihre Beine gebeugt und mit dem
eigenen Knackarsch geschimpft!“ Wir brüllten ungewollt ein Lacher in den Raum.
„Ich
bewundere sie. Mannpower und Frauengrazie vereint in einer Person. Lucy ist
Lucy, immer und überall. Ihr ist vollkommen egal, was andere von ihr denken
oder über sie reden. Sie lebt ihr Leben nach ihrem ganz persönlichen Geschmack
und macht nicht viele Reden über sich selbst. Neulich gab sie zu, dass sie
Flugangst hat und deshalb lieber mit dem Motorrad in den Urlaub düst. In ihren
vier Wänden hopst sie locker leger auch mal in Jogginghosen rum, wenn sie vor
dem TV abhängt oder im Fitnessstudio powert. Viele steuern ihr Leben im Sinne
der Karriere, wollen hoch hinaus, Lucy sucht nur ihre Zufriedenheit!“
„Hat
sie außer dir noch enge Freundschaften?“ „Mit Arno und seiner Familie ist sie
ab und an zusammen, ansonsten teilt sie ihren Alltag mit uns und ihrer Arbeit.
Wie es scheint, hat sie keine Angst vor Einsamkeit und Langeweile.“
„Meinst
du nicht, dass aus Kumpelei Liebe werden könnte? Tausendmal berührt, tausendmal
ist nichts passiert …!“ „Das klingt ja wie der helle Wahnsinn. Auf diese Idee,
Lucy und du ein Paar, wäre ich nicht mal in hundert Jahren gekommen. Schade,
dass deine Sexhormone nicht schon früher in diese Richtung gekreist sind.
Vielleicht hätten wir ja gar Doppelhochzeit feiern können, so ganz
firmenvertraut. Lass dir eine gute Eroberungsstrategie einfallen!“
Wie
vom Blitz getroffen, schnellte Maren aus ihrem Schaukelstuhl. „Mama hole den
Champagner und komme rauf, dein Sohn hat seine Traumfrau entdeckt!“
Plötzlich
hatten beide verwirrend viele Gedanken und Ratschläge für mich parat. Mama
begannen die Augen zu funkeln: „Ron, ich wusste, dass du zum Familienmenschen
und nicht zum Junggesellen geboren bist. Sage Lucy, was du für sie empfindest,
werbe um sie, erobere ihr Herz, setze ihr Schmetterlinge unter die Haut. Jede
Frau sehnt sich nach Liebe und einem bodenständigen Partner. Ich mag sie. Das
Berufsblau verschafft ihr Respekt und steht für ihr handwerkliches Geschick. Das
Ausgehrot spricht für Sinnlichkeit und Selbstbewusstsein. Es gibt diese
Frauentypen nur selten. Gemeinsam hättet ihr unendliche Entfaltungsmöglichkeiten.
Ehrlich gesagt, ich bin von deiner Wahl angetan. Ein Wunschtraum von
Schwiegertochter!“
Maren
fuhr fort: „Hast du sie schon mal angebaggert? Zu deiner Geburtstagsfeier war
sie dir doch ganz schön nah. Sicher ist, dass meine Freundin in keiner festen
Beziehung hängt. Manchmal klebte sie förmlich an mir. Seit ich mit Tim zusammen
bin, hält sie mehr Abstand. Vielleicht braucht sie gerade jetzt, wo wir
heiraten wollen, jemanden zur Unterhaltung oder gar fürs Herz?“ „Du musst das
ja am besten wissen!“
Somit
waren die Weichen gestellt. Frauengenehmigt!
„Viel
Glück, geh die Sache besonnen an, was wachsen soll, braucht Zeit! Baggere nicht
gleich mit der großen Schaufel. Unerschrockene Frauen haben oft eine dünn
besaitete Seele!“ Damit war alles gesagt.
In
meinen Vorstellungen kam ich ihr immer näher. Diejenige, mit der Lucy die
meiste Zeit verbrachte, war sie selbst. Locker befreundet war sie eigentlich
mit jedem von uns. Wir fanden sie alle sympathisch und vertrauensvoll. Das Band
zwischen ihr und Maren wurde gleich am ersten Tag geknüpft. Unsere Mädels
fühlten sich von Frau zu Frau tabuloser. Sie standen sich in vielen Lebenslagen
näher. Frauen brauchen eben Freundinnen, um weibliche Geheimnisse zu teilen,
hemmungslos zu lachen, verrückte Dinge zu tun. Einmal kamen beide in einem
roten Leinenoverall, so ganz nach Lady-Chic, zur Arbeit, um in dieser Männerdomäne
aufzutrumpfen.
Meine
Fantasien begannen Purzelbäume zu schlagen. Maren, Lucy, Tim und ich wären doch
ein geniales Familienunternehmen. Jeder würde für den anderen einstehen und die
Kohlen aus dem Höllenfeuer holen. Eine solche Frau war es wert, beschützt zu
werden.
Der
Zufall kam meinem Wunschdenken zur Hilfe und mir wurde schlagartig bewusst,
dass ich den Eroberungsfeldzug hier und jetzt beginnen konnte.
„Hey
Ron, du Alleskönner, der Motor meiner BMW singt ein bedenklich klingendes Lied.
Könntest du mal nachschauen, woran das liegt?“ „Hallo Lucy, schön von dir zu
hören. Bin im Leerlauf, kannst gleich heran rollen. Ich warte auf dich.“
Eine
freundschaftliche Umarmung ließ mich ihren Körper spüren, elektrisierender als
sonst. Das war Hirnsteuerung!
„Stelle
deinen Liebling gleich in die Halle und lass‘ mal den Motor aufheulen! Klingt nach
Vergasermacke! Kein Problem! Das kriegen wir schon hin!“
Mit
wenigen Handgriffen und technischem Geschick hatten wir den Motor bald wieder
im Normaltakt.
„Komm
noch für ein Kaffee-Schwätzchen mit in den Garten, wenn du Zeit hast. Erzähle
mal von deiner Prag-Tour, war ewig nicht in der Goldenen Stadt. Ich braue uns
einen Mokka und du kannst das Geschirr rausholen. Im Kühlschrank findest du
noch Mama-Kuchen mit Schokolade!“ „Prima! Den mag ich am liebsten!“
Eilig
stellte sie die Kaffeepötte auf den Tisch und ich platzierte mich verkehrt
herum auf dem Stuhl, umklammerte die Rückenlehne, atmete tief durch und
betrachtete Lucy. Die Gartenluft war frisch, wohltuend, beflügelte Körper und
Geist. Ein berauschendes Gefühl machte sich breit. Das lag nicht nur daran,
dass wir uns begegneten, sondern auch an den kleinen Dingen des Miteinanders,
die mit einem Mal groß an Bedeutung wurden. Etwa wie Lucy lächelte, trotz
Abgespanntheit. Wie sie mich mit ihren
leuchtenden Augen musterte. Wie sie mit Lebhaftigkeit von ihrer Fahrt erzählte
oder wie sie mich ganz selbstverständlich an sich drückte, wenn sie kam bzw.
ging. Während ich simulierte, schloss sie für eine Weile die Augen und genoss
die sonnige Entspannung. Wie gerne hätte ich mit meinen Lippen ihren
Erdbeermund geküsst.
„Ein
wunderschönes Fleckchen Erde hier, Randlage, verkehrsarm, Bergidylle. So einen
reizvollen Blick bietet mir mein Opa-Häuschen nicht, nur Hauptstraße und
Gartengrün. Seit ich vor zwei Jahren von Hamburg weg bin, ist aus der
Wasserpflanze eine Gebirgsziege geworden. Fühle mich aber gut hier und habe in
Thüringen mein neues Zuhause entdeckt, wo jedem auch der andere am nächsten ist!“
„Wir
sind seit Generationen hier in Heiligenstadt verwurzelt. Eine Frage so ganz
nebenbei, vom Sommerwetter inspiriert: Was liegt bei dir am Wochenende an?“
„Ausspannen, exotisch frühstücken, Fitness-Stündchen und faulenzen!“ „Hättest
du Spaß an einer Biker-Tour zum Kyffhäuser? Dieses tolle Wetter muss man doch
ausnutzen.“ „Die Burg habe ich bisher nur aus der Ferne gesichtet. Hat da nicht
der Rotbart regiert?“ „Kaiser Barbarossa sitzt sogar noch auf seinem
Thronsessel und wartet bestimmt auch auf uns, genau wie auf die Wiederkehr
seines Reiches!“ „Klingt verlockend!“
„Wir
starten am Samstag, um 11.00 Uhr, nach dem Ausschlafen, ist das okay?“ Anfangs
zögerlich, doch dann erlebnislustig, sagte sie zu. „Hole dich ab und freue mich
jetzt schon auf unsere Tour!“ „Danke für die Reparaturhilfe und den Mokka, der
hat meine Lebensgeister wieder geweckt.“
Kaum
hatte sie ihre letzten Gedanken ausgesprochen, sauste sie auch schon um die
Ecke.
Dem
Sonnabendmorgen, dem Sonnenaufgang, dem Barbarossakönig und dem Ausflug mit der
Trucker-Braut sah ich ungeduldig und erwartungsvoll entgegen. Ich war so
aufgewühlt wie in den Kinderjahren, als Weihnachten und mein Geburtstagsfest
vor der Tür standen. Minutengenau stoppte ich die Maschine vor Lucys Haustür in
Niederorschel. Kaum hatte ich geläutet, schaute mir ein frech wirkender
Mädchenkopf aus dem oberen Fenster entgegen. Sie hatte ihre langen blonden
Haare zu vielen winzigen Zöpfen geflochten, die bei jeder Drehung um ihren Kopf
wirbelten.
„Hallo
Ron, es kann gleich losgehen, muss nur noch die BMW aus der Garage holen!“
Ledergestylt
ließ sie in weniger als fünf Minuten ihre Maschine aufheulen. „Mir nach!“,
schrie ich im Anflug. „Hast ja deinen Rotblitzhelm aufgesetzt, echt toll, damit
verliere ich dich bestimmt nicht aus den Augen!“
Vergnüglich
düsten wir Richtung Nordhausen, Sondershausen, Berga Kelbra und dann zum
Denkmal. Wir hatten eines der wenigen Sommersonnenwochenenden erwischt, das
nicht von Regenschauern durchkreuzt wurde. Der wolkenlose Himmel strahlte über
uns, so als wollte er das Tor zum Glück öffnen. Ein leichter Windhauch verlieh mir
Flügel, Lucy im Schlepptau.
Sagenhaft
umwoben und reizvoll war die Landschaft im Naturpark Kyffhäuser, die wir
gemütlich durchstreiften. Als wir auf der Turmkuppel des Gebirges das imposante
Denkmal erblickten, kam Abenteuerlaune auf. Die
Fahrt glich einer Bergrally, kurvenreich spektakulär. Manche Biker
suchten regelrecht den Kick und manövrierten sich durch gefährliche
Überholmanöver an uns vorbei. Die Geschwindigkeitsbegrenzung von 50 km/h
ignorierend. Ich registrierte im Rückspiegel, dass meine Partnerin einen
sicheren Fahrstil hatte und den Risikobogen nicht überspannte.
Nachdem
wir die Motorräder gut gesichert auf dem Parkplatz abgestellt hatten, im Schatten
einer Urgroßvaterbuche, durchschritten wir erwartungsfroh das Eingangsportal
und entrichteten den Wegezoll.
Lucy
sprühte vor Begeisterung. „Warum war ich eigentlich noch nie auf dem
Kyffhäuser? Der Berg, eingebettet in den Naturpark, bietet eine gigantische
Aussicht vom Harz bis zum Thüringer Wald. Echt grandios!“
„Du
warst noch nie hier, weil ich dir den Weg erst zeigen musste. Das kürzlich
restaurierte Denkmal ist zum Besuchermagneten geworden. Die im 11. Jahrhundert
errichtete Reichsburg zählt zu den größten und stärksten Burganlagen
Deutschlands. Schau dir dieses Getümmel an!“
Vor
Ehrfurcht fast erstarrt, starrte meine Begleiterin zum Reiterstandbild Kaiser
Wilhelm I. auf.
Wir
schlenderten lässig und froh gestimmt an den bunten Menschentrauben vorbei und
verharrten vor dem gewaltig mächtigen Rotbart Barbarossa, überdimensional in
Stein gemeißelt.
Vor
dem Burgbrunnen waren bemerkenswert viele Touristen versammelt, von der Magie
angezogen. „Wirf einen Münzstein in das Brunnenloch, es ist das welttiefste
dieser Art. Bis er unten eintaucht, musst du dir etwas gewünscht haben. Wenn
sich das Wasserloch verdunkelt, haben die Brunnengeister dein Begehren
aufgenommen!“ „Nun muss ich aber lachen, das klingt ja wie im Märchen.“ „Alles
was hier einmal war, ist für uns doch märchenhaft.“
Danach
strömten die Besucher in alle Richtungen, zum Herrschersitz, zur Ausstellung,
in das Museum oder in das Wappensaalrestaurant.
Zum
Abschluss erklommen wir die 247 Stufen zur Aussichtsplattform. Kulturbefriedigt
entschlossen wir uns, am Stausee Hohenfelden einzukehren.
Im
Ferientrubel fanden wir am Badestrand ein idyllisches Plätzchen, an dem wir
einen Bratwurstimbiss mit Kartoffelsalat, deftig schmackhaft, einnahmen.
Gesättigt und guter Dinge ließen wir uns unbeschwert ins Gras fallen, klappten
die Augenlider runter und tauchten in das Wochenendvergnügen ein, das uns von
allen Seiten entgegen lachte. „Endlich Badewetter! Endlich Sommerwärme! Endlich
Seelenbaumeln!“,frohlockte ich.
An
Lucys Seite zu liegen schreckte meine Gefühle erneut auf, ich spürte Wärme
überall, ein Kribbeln im Bauch, Schmetterlingsflügel im Herzen und ihre Erdbeersüße
auf meinen Lippen. Angriffslustig zog ich sie hoch.
„Lass
uns einen kleinen Spaziergang zum Campingplatz machen, sonst fange ich unter
meiner Ledermontur noch an überzukochen!“ Ohne Einwand ließ sie zu, dass ich
ihre Hand fasste und die Führung übernahm. Meine Blicke und Gedanken blieben an
ihr haften. Diese Frau wirkte in jedem Look anziehend. Heute kam sie mir
romantisch und verspielt vor mit den Wipp-Zöpfchen, so richtig zum Anbeißen. Ich
ließ es vorerst aber beim Händchenhalten.
„Ein
Campingurlaub wäre sicher auch recht abenteuerlich. Vielleicht könnten wir ja
mal an diesem Ort die Zweisamkeit feiern. Wenn man auf den Luxus verzichtet und
die Natur zum Lebenszentrum macht, kann das schon recht erholsam werden.“
„Lieber
nicht! Bei der nächsten passenden Gelegenheit unternehme ich mit dir eher eine
kurvenreiche Harzreise, da kannst du mich in die Barbarossahöhle entführen. Zu
viel Nähe mag ich nicht!“
Auf
dem Rückweg zum Stauseeparkplatz blieben wir sinnend am Uferrand hocken. Lucy
kreuzte die Beine unter sich und zündete sich in entspannter Haltung die
Genuss-Zigarette an, blies mir, inzwischen Nichtraucher, den Qualm um die Nase,
als wolle sie mich umnebeln. Nun wurden wir beide vom Rauch umflutet, der uns
in eine Traumwelt fortriss.
„Warum
lebst du eigentlich mit keinem Mann zusammen, wo du doch eine Klassefrau bist?
Macht Alleinsein nicht manchmal auch einsam?“
Bevor
sie antwortete, sog sie die frische Tagesluft ganz tief ein, um sich für eine
ehrliche Antwort stark zu machen. „Mir geht es gut, ich bin zufrieden. In
meinem Arbeitsalltag finde ich Erfüllung. Das genügt mir. Ich habe gelernt,
meine eigenen Glücksprioritäten zu setzen. Wenn ich mich mit allen Sinnen
lebendig fühle, dann lebe ich, genauso, wie ich es mag. Ungebunden zu sein,
bedeutet Unabhängigkeit, Freiheit und ein geringes Maß an Risikobereitschaft.“
Damit
hatte sie mir ihren Standpunkt klar gemacht, der so gar nicht in meine
Zukunftspläne passte. Gefühlsmäßig war ich nah an ihr dran, verstandsmäßig
jedoch weit entfernt von ihrer Lebensphilosophie.
Die
Zweisamkeit brachte uns dennoch Erfüllung und so landeten wir in meinem
Gartenstraßenbett, wo sich unsere Körper suchten, abtasteten und fanden,
während sich die Gefühle vereinten. Ich spürte in dieser ersten Nacht, dass
Lucy auf keine feste Intimbeziehung aus war. Ihr Höhepunkt war nicht der meine.
Diese Leidenschaft, die sie mir zeigte, fühlte sich irgendwie kalt an. Mit
Liebe hatte das nur wenig zu tun. Für sie war alles nur ein körperlicher Akt.
„Guten
Morgen du Schöne, was darf ich dir zum Frühstück servieren?“ Sie blinzelte
sichtlich irritiert in den hellen Vormittag. Ihre Augen schienen zu
erschrecken, als sie meinen nackten Körper erblickte. „Es war keine aufregende,
aber eine hoffnungsvolle Nacht mit dir gewesen. Danke!“
Lucy
stemmte sich hoch, lehnte sich in die Kissen und fragte zögerlich: „Was soll
das hier mit uns beiden? Bin ich etwa freiwillig in dein Bett gestolpert? Muss
aus lauter Übermut und Gefühlsduselei passiert sein. Entschuldige!“
Jetzt
machte sie eine ausladende Geste, wobei sie sich automatisch die Bettdecke über
die bloße Haut zog. Offensichtlich konnte sie ihre Nacktheit im hellen
Tageslicht nicht so ausleben wie ich. Hatte sie ein Natürlichkeitsdefizit? War
ihr die Situation peinlich?
„Ihr
Thüringer seid ein gastfreundliches Volk, das Freunde wie Familienmitglieder herzlich
aufnimmt.“
Sollte
das ein Erklärungsversuch sein? Er stimmte mich recht nachdenklich. Lucy
beeilte sich, die Motorradkluft raffend, ins Bad zu kommen. Wenig später stand
sie entschlossen vor mir. „Sorry Ron, muss wohl schwach geworden sein. Die
Hitze hat uns sicher etwas kopflos gemacht. Tschüss bis Montag!“ Dann nahm sie
der Morgenwind mit sich fort.
Mein
Glücksrad drehte sich plötzlich rückwärts. Meine Hände klammerten sich an der
Tischkante fest, die Fassung suchend. Ich säuselte vor mich hin, in den leeren
Raum: „Entschuldige, dass ich die Zeichen deiner Zuneigung falsch gedeutet
habe! Entschuldige, dass ich meinen Gefühlen Raum gegeben habe! Entschuldige,
dass ich dich liebe!“
Sie
war bereits auf dem Fluchtweg, als ich immer noch im Schlafzimmer herum stolperte,
orientierungslos, fassungslos, zutiefst entehrt. Der Himmel war klarer, als
meine Beziehung zu Lucy. Die Sonne funkelte heller, als ihre Abschiedsaugen.
Ich hatte den Kampf um sie verloren, bevor er überhaupt so richtig begonnen
hatte. Wenn man einen Menschen liebt, dann lässt man ihn gelten, so wie er ist
und wie er sein will. Somit ließ ich Lucy wieder in die Kumpelklamotten
rutschen. Wenigstens konnte ich mich noch über das Liebesglück von Maren und
Tim freuen.
Eine
Woche nach dieser Abfuhr überfiel mich ein ominöser Traum. Ich spazierte locker,
glücklich verliebt mit Lucy, Hand in Hand am Meer entlang. Zukunftsvisionen
besetzten uns. „Sag mal Schatz, wie viel Kinder wünschst du dir eigentlich? Es
wird Zeit für die Familienplanung, sonst sterben die Hausers noch aus!“ „Mit
einem Nachkömmling wäre ich schon zufrieden, denn die Mutterrolle auf Lebzeit
liegt mir nicht.“ „Ach, sei doch nicht so genügsam. Mit dir will ich mindestens
drei Sprösslinge haben, alle mit Blondschopf und Erdbeermund!“
Plötzlich
riss sie sich los und sauste geradewegs auf die herannahenden Wellen zu. „Fang
mich, wenn du kannst!“ Fasziniert von ihrer Grazie, nahm ich scherzhaft die Verfolgung
auf. Die Flut kämpfte sich immer weiter zum Land vor mit schnaubenden
Wellenkämmen. „Komm zurück, ein Ebenbild von dir würde mir ja schon genügen!“
In meiner Freude und Ausgelassenheit schien ich gar nicht zu bemerken, dass die
Wellen über sie hinauswuchsen. Das blanke Entsetzen ins Antlitz gemeißelt,
schrie ich ihr nach: „Bleibe stehen, ich bin gleich bei dir und rette dich!“
Meine Stimme erstarb und ihre Gestalt verblasste. „Du schaffst es nicht, sie zu
halten!“, hämmerte es in meinem Schädel.
Dieser
Tragödientraum ließ mich in der besagten Nacht keinen Schlaf mehr finden. Müde
und deprimiert wälzte ich mich in der seidigen Bettwäsche hin und her, bis der
Morgen den schwarzen Vorhang schloss und mich in die reale Welt zurückholte.
„Glück
ist etwas, was man geben kann, ohne es zu haben.“, wusste schon Ricarda Huch
(1864-1047).
Frauen
wie sie schienen einer besonderen Spezies anzugehören. Beziehungen im Job
funktionieren selten auf Dauer. Manchmal ticken weibliche Wesen auch gegen die
Liebesuhr. Wenn Mann und Frau zusammen arbeiten, gibt es immer erotische
Berührungspunkte. Mit derartigen Argumenten versuchte ich, mir meine Niederlage
bei Lucy zu erklären. Mir kamen Zweifel auf, ob sie überhaupt die Bestimmung
für eine Frau zum Heiraten hatte. Jedenfalls war es mir gelungen, in ihre
Gefühlswelt einzudringen.