Donnerstag, 14. Juni 2018

Kirmesleichen

Fotostudio Drost
Fotostudio Drost

2. ERMITTLUNGEN ENDEN IM NICHS
Im Polizeipräsidium angekommen, ohne jegliche Spaßspuren auf den Wangen, wurde uns mitgeteilt, dass die Landespolizeiinspektion Nordhausen (LKA), die für unseren Bereich zuständig ist, sich mit eingeschaltet hatte. So hoffte man, die Ermittlungen mit vereinten Kräften beschleunigen zu können. Hauptkommissar Götz, Ina Richter und Ben Winkler, mit denen wir schon Nachtbekanntschaft gemacht hatten, erwarteten uns bereits mit Ungeduld. Sie schauten so aus, als hätten sie sich in ihren Amtsstuben die ganze Nacht an der Kaffeetasse festgehalten, die noch an ihren Fingern klebte. Völlig abgespannt und übermüdet traten sie uns entgegen.
„Guten Tag, danke dass Sie erschienen sind. Wir werdenjeden einzeln befragen, bitte warten Sie, bis man Sie aufruft.“
Ich ließ mich neben Lucy in den Stuhl plumpsen. „Hey, Truckerlady, bist du wieder okay und hast du dich inzwischen ausgereihert?“ Ein gedehntes „Ja!“ sprang über ihre Lippen, die gestern noch wundervoll geschminkt lachten. „Schaust aber immer noch wie ein Käsekuchen mit Mund- und Augenrosinen aus!“ Mit ihrem Schweigen erteilte sie mir eine klare Abfuhr.
Beleidigt rückte ich zu unserem Fabian rüber. „Mensch Junge, so beherzt wie du gestern Erste Hilfe geleistet hast, hätte nicht jeder reagieren können. Echt tapfer von dir! Respekt!“ Er blickte mit großen grünen Augen auf mich. „Ist doch Bürgerpflicht!“
Nach diesen kurzen Gesprächen liefen wir ungewollt in verschiedene Richtungen, lediglich Maren und Tim klammerten noch aneinander. Es war schwer auszumachen, wer bei wem Halt suchte.
Unsere Personaldaten wurden noch einmal abgeglichen. Die Fragen waren identisch. „Haben Sie relevante Beobachtungen gemacht, die Ihnen in der letzten Nacht  noch unwichtig erschienen? Wer war zuerst am Tatort? Wo hielten Sie sich genau zum Tatzeitpunkt auf? Sind Sie vorbestraft?“
Hauptkommissar Jannik Götz stellte uns zum Abschluss das Ermittlerteam vor. „Meine beiden Kollegen Richter und Winkler kennen Sie bereits Das LKA hat uns noch Oberkommissar Leo Kox zur Unterstützung geschickt. Sie können sich jederzeit an uns wenden, wenn bei Ihnen noch wichtige Hinweise aufflackern. In erster Linie geht es uns darum, die Personalien der Frau zu ermitteln. Die Vermisstenmeldung an die Medien ist bereits vor einer Stunde rausgegangen. Unsere Beamten durchkämmen die Nachbarschaft und schicken Streifenpolizisten von Tür zu Tür entlang der Stadtmauerwohnungen. Wir brauchen Anhaltspunkte. Keiner ist ein Niemand! Jeder hat eine Identität.
Danke für Ihre Aussagen, bitte lesen Sie sich die Protokolle noch einmal durch und bestätigen Sie die Angaben mit Ihrer Unterschrift. Das war’s dann für heute. Es kann aber durchaus passieren, dass wir Ihre Hilfe noch einmal benötigen, denn die kriminaltechnischen Untersuchungen dauern ebenfalls noch an. In den vorläufigen Pathologiebericht haben wir lediglich Einsicht genommen. Wir erhielten die Bestätigung dafür, dass es sich um ein Tötungsdelikt handelt. Es liegen nachweisbare Spuren von Gewaltanwendung vor. Man kann aber davon ausgehen, dass es sowohl ein Raubmord, als auch eine Tat mit sexuellem Hintergrund gewesen sein könnte. Der Todeszeitpunkt ist um Mitternacht anzunehmen. Der Fundort hat sich als Tatort bestätigt.
Warum erzähle ich Ihnen wohl diese Details? Momentan haben wir nur sehr wenig Anhaltspunkte und Spuren. Da es sich definitiv um einen Mordfall handelt, muss es auch einen Mörder geben, genau diesen werden wir ermitteln. Dabei sind wir auf jeden Hinweis von Beteiligten angewiesen.
Versuchen Sie, Ihren Alltag wieder aufzunehmen. Danke für das kooperative Verhalten. Auf Wiedersehen!“
Aufgewühlten Gemüts und pochenden Herzens gingen wir auseinander, so, als wollte jeder vom fliehen.
Tags darauf erschreckten zwei Zeitungsmeldungen die Menschen in Thüringer und wahrscheinlich auch die Leser vielerorts in Deutschland. Überregional wurde von einer Kirmesleiche in Heiligenstadt / Thüringen berichtet und es erschien eine Fahndungsmeldung mit dem Foto des Opfers.
LKA Thüringen, Heiligenstadt
FAHNDUNG: „Unbekannte Tote wurde nach dem Kirmesvergnügen am Pfingstmontag in Heiligenstadt aufgefunden. Die Person ist zwischen 23 und 30 Jahre alt, hat eine schlanke, aber frauliche Figur, mittellange schwarze Haare und einen dunklen Teint. Sie trug zum Tatzeitpunkt ein olivgrünes Ballonkleid, schwarze Leggins und Pumps. Auffallend waren der leuchtend rote Lippenstift sowie das dazu passende Schaltuch. Die Frau hatte weder Handtasche noch Papiere bei sich. Wer kann Angaben zu der abgelichteten Person machen? Wer kennt oder vermisst das Opfer? Meldungen nehmen sämtliche Polizeidienststellen entgegen!“
Das Foto zeigte das Gesicht der Unbekannten in einem normalen Zustand. Wir hatten sie leicht zerzaust und lippenstiftverwischt vorgefunden.
Nun war die sonst so angenehme Ruhe, die über unserem idyllischen Städtchen lag, auf einmal wie zerrissen. Es wurde getuschelt, geklatscht und individuell ermittelt. Jeder stellte so seine Vermutungen an und tat so, als würde ihm dazu etwas einfallen. Eins stand für die kleinbürgerlich denkende Stadtgesellschaft fest: Opfer und auch Täter waren keine von hier! Weil niemand die Tote zu kennen schien und man dem ach so netten und redlichen Mitbürger keinen Gewaltmord anhaftete, kam nur ein Fremder in Betracht.
Die meisten angeblichen Zeugenaussagen erwiesen sich als ein Sich-in-Szene-Setzen.
Mittwoch, im Laufe des Vormittages, rief mich mein fast Schwager Tim aus Duderstadt an. „Hallo Ron, wie geht es dir, die Gefühlswelt wieder im Lot? Schließlich sollte es dein Freudentag werden. Kaum zu glauben, aber wahr, was da zum Kirchweihfest Unchristliches vorgefallen ist und das in eurem päpstlich gesegneten Thüringen! Manchmal versteht man die Welt einfach nicht mehr! Du kennst die Mädels und Jungen aus der Firma privat doch besser als unsereins. Sicher kannst auch du dir nicht vorstellen, dass einer von uns etwas mit dem Mord zu tun hat.“ „Ich bin mir da sogar ganz sicher. Wir haben nichts zu befürchten.“
„Richte Maren bitte aus, dass ich sie in einer halben Stunde abhole!“ „Mache ich!“
„Nach dem plötzlichen Schlaganfalltod meines Vaters standen Mutter, Maren und ich unentschlossen vor dem Familienbesitz in dritter Generation. Aufgebaut wurde die Firma „Hauser Farb-und Fassadenprofis“ von Urgroßvater August, der damals die Malerwerkstatt gründete. Heute ist daraus ein modernes Unternehmen geworden. Ein Team mit sechs Leuten, Mama im Büro, Maren im Kreativbereich und ich sorge für die Auftragslage. Wir sind leistungsstark, zuverlässig und lesen den Kunden die Wünsche von den Augen ab. Unsere weißen Westen konnte die Kripo nicht schwärzen, das stand fest!“, schoss es mir durch den Kopf.
Genau um 14.00 Uhr betraten wir das Büro von Hauptkommissar Götz, in dem auch Kox auf uns lauerte. Ein Dr. Leo Süß wurde uns als Staatsanwalt des Falles vorgestellt.
„Guten Tag, Ihr Erscheinen wird uns hoffentlich helfen, etwas Licht in das Dunkel der Ermittlungen zu bringen, in dem wir leider noch tappen. Uns ist es jetzt erst einmal wichtig, die Tatverdachtsfrage zu klären, damit wir ausschließen können, dass Sie bzw. ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weiterhin zum Kreise der von Amts wegen tatverdächtigen Personen zählen. Für uns ist zu Beginn eines Falles erst einmal jeder in Verdacht, der mit der Leiche zu tun hatte bzw. am Tatort war!“
Kox hockte auf der Rückenlehne von einem der Stühle in lässiger Haltung, als er redete. Götz saß an seinem Schreibtisch, die Hände seitlich an den Kopf gelegt, so als würde seine Denkmaschine auf Hochtouren arbeiten. Der Vertreter der Staatsanwaltschaft massierte sich die Schläfen, weil diese anonyme Tote auch ihm Kopfzerbrechen bereitete. Was für Schritte konnte man schon unternehmen, wenn man nicht einmal wusste, auf welchem Wege man sich befand. Dr. Süß hatte einen Schreibblock und einen Kugelschreiber vor sich liegen, begierig darauf, Fakten aus uns rauszuholen. Der Raum war klein und weiß getüncht, genauso leblos wie die Frauenleiche, wegen der wir anwesend waren.
„Unsere bisherigen Untersuchungen haben ergeben, dass die Person erwürgt wurde. Durch das Zusammendrücken des Halses mit einem Schaltuch, das wir am Körper der Frau fanden, leider ohne Spuren. Sie ist regelrecht erstickt worden. Der Täter muss Handschuhe getragen haben. Würgemale am Hals und der Bruch des Zungenbeins sind der Beweis für die Todesursache. Wir gehen davon aus, dass der Mörder männlich ist. Die Würgestreifen liegen tief, was von einem Kraftakt zeugt. Frauenhände können kaum eine derartige Spur hinterlassen.
Da die Tote nur billigen Modeschmuck trug, glauben wir, dass auch in ihren Taschen nichts außerordentlich Wertvolles steckte, d.h. Raubmord wäre abwegig. Ein Suizid durch Erwürgen ist unmöglich, einfach nicht praktikabel. Minimale Hautabschürfungen und leichte Kratzerverletzungen lassen auf Gegenwehr schließen. Wir haben es also mit einem Gewaltverbrechen zu tun, begangen von einem Mann, wahrscheinlich mit sexuellen Absichten. Aus diesen eben aufgeführten Gründen müssen wir die Alibis sämtlicher Zeugen genauestens überprüfen. Dazu brauchen wir Ihre Mitarbeit.“
Innerlich erneut in Entsetzen geraten, mit fassungsloser Miene, begannen wir auf unseren Stühlen hin und her zu rutschen.“
„Ein furchtbarer Fall, der viel Unruhe verbreiten wird. Da gibt es eine Mutter, die nicht einmal weiß, dass man ihr Kind grausam getötet hat. Andere Frauen bangen von nun an um ihre Töchter, die im Dunkel der Nacht unterwegs sind. Manche trauen sich vielleicht abends gar nicht mehr alleine auf die Straße. Soweit darf es nicht kommen. Wir müssen für Sicherheit sorgen, das heißt wiederum, den Täter schnellstens überführen!“, mahnte Kox unser Gewissen.
Mich anvisierend ließ Jannik verlauten: „Deshalb sind wir auf Ihre Ehrlichkeit und Mithilfe angewiesen. Scheuen Sie sich nicht davor, irgendwelche Bedenken auszuspucken. Reden Sie über alles und jeden, der Ihnen Kopfzerbrechen bereitet. Dann können wir immer noch festlegen, was davon ins Protokoll kommt und was nicht. Hätte jemand von ihren Angestellten ein Motiv haben können? Trauen Sie einem der Männer diese Tat zu? Gibt es bestimmte Lebensumstände, die jemanden zum Gewaltverbrecher werden lassen könnten? Neigt einer der Leute zur Gewalt oder hat jemand ein besonders abwechslungsreiches Sexualleben? Alle diese Fragen interessieren uns brennend.“
Nun wurden wir erbarmungslos und ganz persönlich ins Verhör genommen. Vox entführte Klaus und Götz nahm mich ins Visier der Ermittlungen.
„Herr Richter, ich möchte Sie zuerst für das Vernehmungsprotokoll fragen, wo Sie sich in der Nacht vom 28. zum 29. Mai 2016 zwischen 23.30 Uhr und 0.30 Uhr aufgehalten haben.“ Die Antwort hatte ich mir schon zurechtgelegt“  
„Auf der Spaßmeile! Brauhausplatz!  Als auf dem Klausberg nur noch gedrängelt und geschubst wurde, die neu restaurierte Kirche Pinkeltaufe bekam, die Bierbestellung immer länger dauerte und wir von Mal zu Mal unternehmungslustiger wurden, suchten wir auf dem Rummelplatz Showvergnügen. Der einzige, der sitzen geblieben ist, war Manni.
Als wir uns dort in das Kirmesgetümmel stürzten, schlug uns ein höllischer Lärm entgegen. Flackernde bunte Lichterketten brachten uns ins Schweben und wir begannen, uns von den Lockrufen der Schausteller einfangen zu lassen. Rasch kauften wir uns zu zweit, zu dritt oder wie Fabian alleine, Spaßkarten. Die Mitternachtsparty tobte. Eine ganze Zeit später vermissten wir David, der sich, wie sich danach herausstellte, zum Flirten abgesetzt hatten. Der Jüngste in unserer Truppe, Fabian, meldete sich vorzeitig ab, weil er unbedingt noch ein Eierkettensouvenir ergattern wollte. Lucy traf eine Bekannte, mit der sie sich zum Schwatz absetzte. Maren, Tim und ich schlenderten gemeinsam durch das Kirmesvergnügen. Kurz vor zwei Uhr waren wir dann wieder am Klausberg vereint, wo ich das Partyende für angebracht hielt. Ich bestellte den Taxibus und wir zogen gemeinsam zum Treffpunkt obere Wilhelmstraße. Auf dem Weg dorthin erschreckten Maren und Tim zuerst vor der leblosen Frauengestalt, die in einer Stadtmauernische kauerte. Danach nahm die Polizei das Geschehen unter Kontrolle. Für meine Truppe  verbürge ich mich. Von denen wäre niemand zum Morden fähig gewesen. Wann denn auch?“
„Darf ich das alles im Protokoll vermerken?“ „Aber selbstverständlich!  Da ich mich für die Geburtstagsgäste verantwortlich fühlte, habe ich mehr mit gespaßt als getrunken!“ „Danke für Ihre Aussage, wir überprüfen das!“
Ich wurde entlassen, fühlte mich aber längst noch nicht befreit!
„Die Zeit bleibt niemals stehen und das Leben nimmt unaufhaltsam seinen Lauf, in glücklichen wie in trübsinnigen Tagen.“, verkündete mir mein Bewusstsein.
Die Pfingstferien gingen dahin, und wir nahmen unsere Arbeit in der Firma wieder auf. Lediglich Maren und Tim hatten sich eine Auszeit genommen, um Hochzeitspläne zu schmieden.
Kaum hatte ich mir ein Kaffeepäuschen  gegönnt, hielten mich zwei Gedankengänge der Kripoleute wiederholt gefangen und klangen in meinen Hörmuscheln. „Wem trauen Sie einen Mord zu? Wer hätte ein Motiv gehabt?“ Ich verfügte über kein kriminelles Superhirn, weil ich nur selten zum Unterhaltungsroman griff oder mir einen Krimi reinzog. Bikerzeitschriften gehörten zu meiner Monatslektüre.
Ganz plötzlich drängte es mich an die frische Luft, weil mir das lockere Durchatmen mit einem Mal schwer fiel, Herzbeklemmung machte sich breit. Um den Kopf frei zu bekommen, schwang ich mich auf das Motorrad, ließ mir Sonne, Wind und Regentropfen im Gesicht herumtanzen und suchte das Gefühl der Zufriedenheit, das ich am ehesten in der freien Natur fand, mal als Raser, mal als Genießer.
In den Wintermonaten bastelte ich an meiner Karre rum. Es gab immer ein Teil nachzurüsten oder auszuwechseln. Manchmal tourte ich auch mit einer hübschen Braut durch die Gegend, aber es gab da keine Dauerpuppe. Frauen kosten viel Zeit, Geld und Feingefühl, wie ich von Maren wusste. Mit Gewalt musste ich mir keine nehmen. Definitiv stand hundertfünfzigprozentig fest, dass ich nicht der Täter war.
        Meine Mörder- und Verdächtigungsanalyse schweifte weiter zu Manni, dem Ruhepol in unsrer Firma. Eigentlich hatte man ihn auf den Namen Manfred getauft, aber aufgrund seiner fast 140 kg Körpermasse, die er auf die Waage brachte, hatten wir ihm ganz freundschaftlich einen Spitznamen verpasst. Der Bär von einem Mann war ein echter Haudegen, der vor nichts und niemandem zurückschreckte, es sei denn, eine Uniform stoppte ihn. Er packte überall mit an, schlichtete so manchen Streit und liebte sein Feierabendbierchen, ein gutes Essen, den Fernsehapparat und das Hotel Mama. Er galt als gemütlich, gewissenhaft und ehrlich. Manni war eine Seele von Mensch und hatte das Herz am rechten Fleck. Nicht einmal eine Spinne hätte er zertreten können. Statt ein Leben auf der Überholspur zu führen, kehrte er den In-sich-Ruhenden heraus. Mit dem Profil einer Eiche und dem Wohlwollen eines Samariters konnte er keinem etwas zuleide tun. Seine beiden Hände umschlossen zum Tatzeitpunkt lediglich den Kirmesschoppen, keinesfalls einen zarten Frauenhals. Für ihn würde  ich sogar bürgen.
„David ein Frauenmörder, das klang utopisch. Er war überglücklich verheiratet, stolz auf seine zwei Söhne und liebte die Familie mehr als den Beruf. War er unterwegs, lachte ihn das Foto von seiner Frau und den Kindern überall an. War er zu Hause, verbrachte er jede freie Minute mit seinen Lieben. An diesem Kirmestag hat er ein Wenig geschäkert, na und? Alkohol lockert das Gemüt!  Außerdem waren die Kolleginnen und Kumpels fast immer an seiner Seite. Er wohnte im gleichen Ort wie Lucy, hatte sie am Anfang als neue Nachbarin zu sich eingeladen und ihr auch später den Job in unserer Firma vermittelt. Obwohl die Neue ein Rasseweib war, hatte er sie nie mit begehrenswerten Blicken beäugt. In diesem Familienvater schlummerte nichts Böses, dessen war ich mir gewiss und schon gar kein Mörder.
Fabian, ein Neuling in jeder Hinsicht, unerfahren im Berufsalltag, war noch auf der Suche nach sich selbst. Er hatte ein Kunststudium abgebrochen, weil ihm die Kohle fehlte. Nun wollte er sich als Handwerker ausbilden lassen und hoffte, seine künstlerische Ader weiterhin in Szene setzen zu können. Mit seinen genialen Gestaltungsideen bereicherte er meine Angebotspalette.
Unser Jüngster war stets auf Hochfrequenz und für die Liebe schon ganz schön reif. Seine familiäre Lebenssituation schien inzwischen zum Dorfskandal in der kaum 300-Seelen-Gemeinde Wahlhauen geworden zu sein, weil er glücklich und unverblümt mit seinem Freund Jonny die Wohnung im elterlichen Haus teilte. Ohne große Worte über diese Beziehung zu verlieren, wurde er uns ein sympathischer Kollege. Die Annahme, dieser schwule Junge könnte zum Gewalttäter werden, war einfach absurd. Er hätte es lediglich gewagt, unbemerkt Eiergirlanden mitgehen zu lassen. Nur aus diesem Grund hatte er sich in der Leichenfundnacht früher auf den Weg gemacht. Auch dieses Täterprofil war gegensätzlich.
Tim, der Duderstädter, gehörte seit zwei Jahren schon ein Bisschen zur Familie. Er hatte seine Jugend ausgekostet und sich beruflich selbständig gemacht, indem er die Autolackierwerkstatt seines Vaters übernahm. Mein zukünftiger Schwager liebte sportliche und schnelle Autos mit viel PS, trendige Klamotten und Rockmusik. Ihm fehlte es an nichts und ich war überzeugt davon, dass er aus Handwerkerholz geschnitzt war. Es schaut so aus, als hätte er mit Maren die Frau seiner Träume gefunden. Beide hatten am besagten Kirmesmontag sowohl der Geselligkeit als auch ihrer Liebe die Zeit geschenkt. Aneinander angelehnt, Händchen haltend, eng umschlungen, im Kuss vereint, so waren sie unzertrennlich. Der eine ließ den anderen nicht mal aus den Augen – Fazit: Unschuldig!
Das Sahnehäubchen in unserer Gemeinschaft waren Maren und Lucy, ausgestattet mit fachlichen und fraulichen Kompetenzen, so tatkräftig wie verführerisch. Seit Lucy bei uns arbeitete, fühlte sich meine Schwester glücklicher und selbstsicherer. Weibliche Verstärkung zu haben hieß, der Männerdomäne doppelt Paroli bieten zu können. Zwischen den beiden Frauen entwickelte sich eine enge Freundschaft, die durch die Heiratsabsichten von Maren und Tim  ins Schweben gerieten. Die Abende, die Maren sonst mit ihrer Kollegin verbrachte, gehörten jetzt Tim. Vielleicht sollte ich mich ja dieser Frau annehmen, sie war ein begehrenswertes Wesen, mal rockig und mal klassisch, mal elegant und mal recht sexy. Die meiste Zeit aber versteckte sie ihren Knackarsch in Jens oder Overall.
Lucy war pflichtbewusst und zuverlässig. In der Arbeit gipfelte ihr halbes Leben, wie mir schien. Es hatte sie aus familiären Gründen in unsere Gegend verschlagen, was sie mit Schicksal kommentierte. Dies musste ein sehr harter Schicksalsschlag gewesen sein, weil sie bisher mit niemandem darüber geredet hatte. Sie bewohnte das kleine Bauernhaus ihres Großvaters in Niederorschel. Selbst nach drei Jahren baute puzzelte und gestaltete sie noch an diesem Anwesen herum. Dank der Nachbarschaft und Freundschaft zu Davids Familie hatte sie sich gut eingelebt.
Entspannung und Zufriedenheit suchte sie an den Wochenende auf ihrer BMW oder im Fitnessstudio, dass sie sich in ihrem Opahaus eingerichtet hatte. Dort powerte sie oft mit Maren um die Wette. Hatte sie einen Grund, ihr neu erworbenes Glück auf den Kopf zu stellen? Sicher nicht!.
Damit war für mich die Beweisaufnahme abgeschlossen. Ich hätte einen Eid darauf schwören können, dass der Mörder in keinster Weise in unserer Mitte zu finden war. Jetzt galt es, die Kriminalbeamten von meinen Recherchen zu überzeugen.
Meine Aussage: „Wir waren gemeinsam auf einer recht gemütlichen und traditionellen Geburtstags-, Jubiläums- und Kirmesfeier, sind dieser Frau, die wir entdeckt haben, noch nie begegnet, sind rechtschaffene Bundesbürger und jeder kann sozusagen jedem ein Alibi geben.“
Nun oblag es der Kripo, dem Täter auf die Spur zu kommen. Diese Leute waren bestens geschult, Mordrätsel zu lösen.
Der Kirmesmordfall schockte ganz Thüringen. Wie konnte jemand das schönste Volksfest des Jahres, an dem mit Gesang, Umzug und Tanz gefeiert wurde, zum „Eventfriedhof“ werden lassen? Wie konnte jemand das Bild dieser reizvollen Kleinstadt mit Marktplatz, verträumten Gassen, einer Einkaufsmeile, alten Kirchenprachtbauten und idyllischen Winkeln mit Blut beflecken? Alles Einladende, Heimische, Sehenswerte und Vertraute wirkte plötzlich beängstigend und verwandelte sich in eine Gefahrenzone. Unbehagen, Misstrauen und Fassungslosigkeit schwebten über unserer Stadt, wo jeder jeden Zweiten kannte, ihn schätzte, ihm vertraute und keinem etwas Böses zutraute. Die Gesichter der Einwohner hatten sich seit dem Unglücksfall bleich und grimmig gefärbt. Das Wort Mord im Stadt- und Klatschgespräch hörte sich wie Unheil an, das im Widerspruch zur Kirmesmusik stand. Sogar der Herr Bürgermeister schaltete sich ein und versicherte, den Aufklärungsfall mit voranzutreiben. Gleichzeitig appellierte er an die Bevölkerung, sachdienliche Hinweise zu geben. „Wir wollen doch alle in einer friedlichen Stadt leben, unbeschwert unseren Tagesgeschäften nachgehen und wieder einander vertrauen können. Bitte seien Sie uns dabei behilflich, dieses schreckliche Vorkommnis aufzuklären!“
Inzwischen hatten die Polizeibeamten unseren Personenkreis überprüft. Also musste es irgendwo da draußen einen kaltblütigen Mordgesellen geben. Man konnte nur wünschen und hoffen, dass die Ermittler rasch auf die Erfolgsspur kamen.
Meine Gedankengänge wurden durch schrilles Telefongeläut unterbrochen. „Hauptkommissar Götz am Apparat! Spreche ich mit Ron Richter?“ „Guten Tag, der ist an der Strippe! Gibt es Neuigkeiten betreffs der Unbekannten?“ „Leider nein, wir sind bedauerlicherweise noch keinen Schritt vorangekommen, was die Identität der Toten betrifft. Bisherige Hinweise stehen als Vermutungen im Raum!
Hey Ron, mein fotografisches Gedächtnis hat ein paar Stunden gebraucht, um mir zu signalisieren, dass wir uns kennen, jedenfalls haben wir eine gemeinsame Leidenschaft und eine grüne Kawasaki!“ „Ihr Bullen wisst wohl alles?“ „ Bedauerlicher Weise nicht immer! Hast du morgen Abend Lust auf ein Bier mit mir? Könnten uns so um 20.00 Uhr im Schwarzen Adler treffen.“ „Sorry, morgen unmöglich! Ich muss Mama zu ihrem Rommee-Abend fahren und auch wieder abholen. Seit diesem Kirmesmord geht die Angst bei den Frauen um. Sobald es dämmrig wird, bekommen sie auf offener Straße Panik!“ „ Kann ich schon verstehen. Diese Kleinstadtsicherheit ist ins Wanken geraten.“
„Maren scheint ihre Unerschrockenheit auch schon verloren zu haben. Ihr sonst so unbeschwert spontanes Wesen ist ebenfalls ins Flattern geraten. Wo Vertrauen in der Luft hing, schwebt jetzt vielerorts Misstrauen. Das muss sich wieder ändern! Wie wär‘s mit heute, gleiche Zeit, gleicher Ort?“ „Kann ich einrichten! Freue mich!“
Unser Hauptkommissar hatte sich schon an einem Nischentisch platziert. Wir wollten ja kein Biertischgegröle loslassen, sondern  ganz gemütlich und etwas dienstlich plaudern, wie ich dachte. Zwei Pils waren bereits im Kommen und er reichte mir seiner Begrüßungshand nebst Speisekarte. „Du als Junggeselle hast doch sicher auch noch nichts zum Abend gespachtelt. Werde mir ein echtes Thüringer Rostbrätl mit Kartoffelpüree und viel Zwiebeln bestellen. Bist eingeladen! Was magst du?“ „Habe zu Hause schon einen Happen mit Mama gegessen, aber auf eine Rostbratwurst mit Kartoffelsalat bin ich immer hungrig!“
Die Bedienung war schnell, das Essen lecker und wir konnten ungestört reden.
„Woher glaubst du mich zu kennen? Ich habe doch gar keinen Polizeifreund!“ „Was ja noch werden kann!“ „Hattet ihr mich schon einmal im Visier?“ „Ich glaube, wir sind uns auf dem Sachsenring in Zwickau erstmalig begegnet. Du standest in meiner Zuschauerreihe und dann haben sich unsere Fanwege noch einmal auf dem Campingplatz Oberwald gekreuzt. Dort hattest du meine Rennmaschine von allen Seiten unter die Lupe genommen und zum Kumpel „Astrein – eine Traumkarre!“, gezwitschert. Meine Augen haben stets auf dir geruht und am späten Abend wollte ich auf Nummer sicher gehen und habe das Schätzchen ins Zelt geholt. Geklaut wird heutzutage überall.
Als ich vor einem Jahr von Nordhausen hierher versetzt wurde, düste genau vor dem Polizeiamt jemand mit der gleichen Maschine wie ich durch Heiligenstadt. Der Fahrzeughalterhalter war rasch ermittelt.“ „Mensch Jannik, das ist ja der helle Wahnsinn, dass wir hobbymäßig auf gleicher Wellenlänge schweben. Demnächst organisiere  wir eine gemeinsame  Bikertour!“
„Das machen wir, wenn der Fall gelöst ist. Noch gibt uns der Leichenfund eine Menge Rätsel auf. Spurensuche erfolglos, der Pathologiebericht enthält die einzigen definitiven Hinweise. Du bist doch von hier, kennst Stadt und Leute! Glaubst du, dass der Täter ein Heiligenstädter ist?“ „Es fällt mir auch schwer zu glauben, dass ein Einheimischer ausgerechnet in seinem Heimatort mordet.“
„Bevölkerungs- und Anliegerhinweise haben uns noch kein entscheidendes Stück weiter gebracht. Nach der Veröffentlichung der Fahndungsmeldung mit Foto gab es zwei Protokollstimmen, die behaupteten, die aufgefundene unbekannte Tote zu kennen. Das ist vielleicht unsere erste heiße Ermittlungsspur, denn beide Zeugenaussagen kamen aus Mühlhausen und decken sich sogar betreffs des Begegnungsorts. Mehr darf ich gar nicht preisgeben!“  Ich antwortete mit einem Kopfschütteln.
„Im Wirrwarr der Ungewissheit wurde das Sonderteam „Kirmesleiche“ befehligt, mit Hochfrequenz an diesem Fall zu arbeiten. Thüringen hat nur wenige Tötungsdelikte zu verzeichnen. Vor zwei Jahren wies die Statistik 81 Fälle von fahrlässiger Tötung auf und 33 Mordfälle. In welche Kategorie unser Opfer passt, ist noch unklar, aber Dank der gut organisierten Zusammenarbeit mit den LKA-Leuten, die jetzt mit uns im Ermittlerboot schaukeln, werden wir den Fall schon lösen. Die Fahndung in Kurzform ist bereits raus. Wir ermitteln also landesweit! Gegenwärtig sind wir auch im Raum Mühlhausen aktiv. Wir kriegen den Täter!“, versicherte er mit.
Inzwischen war es stockdunkel geworden.  Auf dem Weg zur Gartenstraße beschlich selbst mich ein komisches Gefühl. Es war ja längst nicht erwiesen, dass der Mörder nur auf Frauen stand. Diese Ungewissheit war nervenraubend, deshalb wollte ich Jannik helfen, wenn ich konnte. Die Sympathie sprang ihm förmlich aus dem netten Gesicht. Nicht wesentlich älter als ich, hatte er schon einen hohen Dienstgrad, war ein echter Biker, scharfsinnig und cool. Es schien keines Wegs so, als würde er sein Handeln von Vorschriften blockieren lassen. Leute wie er waren bei der Kripo richtig platziert.
Tags darauf fiel mir folgende Zeitungsmeldung ins Auge: IDENTITÄT DER TOTEN NOCH UNKLAR – Nach dem Tötungsdelikt in der Nacht von Pfingstmontag zu Dienstag in der Nähe des Heimensteiner Kirmesfestplatzes hat die Polizei noch keine Hinweise, die zur Identitätsklärung geführt haben. Die bisherigen Untersuchungen und Ermittlungsergebnisse lassen den Schluss zu, dass es sich um ein Gewaltverbrechen gehandelt hat. Laut Obduktionsbericht trat der Tod durch Erwürgen ein. Wahrscheinlich wurde der Frau mit einem Schaltuch die Luftzufuhr abgedrosselt. Vom Täter fehlt bisher noch jede Spur, er könnte sowohl aus dem Umfeld der Toten kommen, als auch ein Fremder sein. Unsere Leute ermitteln auf Hochtouren und sind für jegliche Anhaltspunkte dankbar.“
Im Leserausch hatte ich sogar das morgendliche Reinigungsritual beiseitegeschoben. Tief durchatmend, bewegte ich mich ins Bad, wusch mich, putzte meine Zähne und begann mit der Rasur. Rasieren war nie meine Stärke gewesen, aber wenn ich den Geschäftsmann herauskehren musste, legte ich schon auf ein stoppelfreies Äußeres wert.
Augenblicklich spulte ich das eben Gelesene in meinem Hirn ab. Plötzlich rann Blut über mein Gesicht. Erschrocken zog ich ein Fitzelchen Toilettenpapier von der Halterung ab und klebte es mit Spucke an die Schnittwunde. Gleich ging es wieder ab und der Schnitt ließ erneut eine rote Spur über die rechte Wange rinnen. Nun betrachtete ich mein eigenes Aussehen, das mich augenblicklich erschreckte. Abgespanntheit und Müdigkeit zeichneten meine Visage.Wie wird wohl der Mörder ausschauen? Ist er auch ein Mann, wie Jannik oder ich? Hatte er vorsätzlich gemordet, oder war es eine Panikhandlung? Stand er mit dieser Frau in irgendeiner Beziehung? Was hat sich zwischen den beiden zugetragen? Behäbig klebte ich ein neues Stück Zellpapier auf die lädierte Stelle und beendete die Rasur zum Glück unfallfrei.
Als ich beim Frühstück wiederholt auf den Polizeibericht starrte, erwachte in mir ein regelrechter kriminalistischer Spürsinn, der das Bild der Tatnacht zu zeichnen begann. Dem vergnüglichen Anlass entsprechend war die Dame entweder ein Kirmesgast oder eine Durchreisende, vielleicht auch eine neue Mitbürgerin. Vermutlich war der Täter eine Zufallsbekanntschaft, die mehr erwartete, als die Begleiterin zu geben bereit war. Keine Frau geht im Normalfall ohne Einkaufs-, Schmink-, Akten- oder Geldtasche aus ihrem Haus. Somit war der Mörder darum bemüht, Beweis- und Identitätsnachweise verschwinden zu lassen. Selbst seine Spuren hatte er verwischt. Sicher war ebenfalls, dass er sein Opfer, dort liegengelassen hatte, wo es getötet wurde. Es ist anzunehmen, dass für den in Panik geratenen Mann die Liebesnische zur Mord-Ecke wurde. Als der Täter den attraktiven Frauenkörper an sich heranziehen wollte, gegen ihren Widerstand, Ist er wahrscheinlich gewalttätig geworden. Mit dem Schaltuch hat er sein Opfer offensichtlich erdrosselt.
Vom ungewollten Ausgang des Flirts selbst geschockt, hat ihn vielleicht sein außer Kontrolle geratenes Verhalten zum Töten und zur Flucht getrieben. Ich stelle mir vor, dass man viel Kraft braucht, um eine Schlinge so fest zuzuziehen, dass der Blutstrom unterbrochen wird. Irgendwo hatte ich mal gelesen, dass dazu nur sechs bis sieben Sekunden nötig sind. Schon kamen mir die aufgedunsenen, rotverschmierten Lippen der Unbekannten in den Sinn, die das eigentlich hübsche Frauengesicht zu einer Fratze werden ließen.
Aus Harmonie konnte aber auch Mordlust geworden sein. Das hieße, dass es dem Mann Spaß und Vergnügen bereitete, Frauen zu quälen. „Diese Bestie musste ihrer gerechten Strafe zugeführt werden!“, hämmerte es in meinem Kopf.
Als ich im Büro am Schreibtisch weiter sinnierte, legte ich die Materialbestellung beiseite und griff mit schweißnassen Fingern zum Handy, wählte die Nummer des Hauptkommissar-Freundes und nahm mit Erleichterung seine Stimme wahr. „Götz am Apparat! Mit wem spreche ich?“ „Hey, Ron hier! Seid ihr in euren Umfeldrecherchen schon vorwärts gekommen? Die ganze Sauerei geht mir einfach nicht aus dem Kopf. Wer sucht sich schon eine mittelalterliche Kulisse für einen Mord aus, noch dazu mitten im Kirmestrubel? Muss wohl eine Zufallstat gewesen sein!“ „Grüß dich! Durch diesen Fragensumpf müssen wir uns doch manövrieren, das ist unsere Arbeit,  dafür werden wir bezahlt. Was meinst du, wie viele Rekonstruktionsvarianten unser Team bereits entwickelt hat. Momentan bringen uns nur Fakten weiter!“ „Gibt es denn da schon welche?“ „ Junge, ich kann dir keine Auskünfte geben.“
Die Aufklärungsarbeit hält uns alle in Atem, raubt uns die Freizeit, bringt oft das Familienglück in Gefahr und entfremdet Eltern den eigenen Kindern. Weißt du überhaupt, dass jedes Verbrechen so lange in den Köpfen der Kriminalisten rebelliert, bis es endlich gelöst ist? Manche Taten zermürben, bis man nicht mehr denken kann!“
„Betrachte mich einfach als deinen Informanten! Ich will euch doch nur behilflich sein! Intern natürlich!“
„Laut einer anonymen Meldung soll diese Tote in einem Mühlhäuser Bordell gearbeitet haben. Der Anrufer behauptete, von ihr bedient worden zu sein und bestätigte die ausländische Herkunft. Das deckt sich mit zwei anderen Hinweisen. Ihre Uhr war der einzige Anhaltspunkt, ein kleines Schmuckstück, auf das der Mörder keinen Wert legte. Ermittlungen in der Szene ergaben bisher nichts – alle ohne Zunge. Ein anderer Kunde will die Frau über eine Erotikanzeige gebucht haben, sie versprach: „Bei Anruf und guter Bezahlung lässt dich unser Sternchen in den Liebeshimmel aufsteigen!“ Diesen Rotlichtspuren folgen wir im Moment! Du kannst dir dessen sicher sein, dass unsere Soko „Kirmesleiche“ am Ball ist!“
„Danke und einen erfolgreichen Tag mein Freund!“
Der Alltagsstress hatte mal wieder die Mordpanik verwischt, aber längst nicht abgeklärt. Neue Energie schöpfend, stieß ich mich aus der Trägheit heraus und gab die Materialbestellung in den Computer ein, auch da war Konzentration gefragt, denn Bestellnummern durften nicht vertauscht werden. Hier war mein Arbeitsplatz.
Hatte mich erneut mit Jannik auf ein Bier verabredet. Aus Eigennutz entwickelte sich Freundschaft.
„Hey Ron!“,begrüßte mich der Bikerkumpel.
Lässig, etwas müde drein lächelnd, betrat Hauptkommissar Jannik die Eckkneipe. Seine sanften Augen waren getrübt. Wir schüttelten uns die Hände. Unsere Begrüßung wurde mit neugierigen Mienen und forschenden Blicken bedacht.
„Stehst wohl auf Männer?“, bemerkte ein Bekannter im Vorbeigehen. Wir ignorierten ihn und bestellten ein Pils.
„Bei uns ist der Teufel los, seid wir den Mordfall am Hals haben. Wir schweben nur im Wenn und Aber. Solch ein scheußliches und undurchsichtiges Verbrechen hatten wir lange nicht zu bearbeiten. Manchmal droht mein Kopf vor zu vielen Ideen zu explodieren. Gedankengänge, die einfach nicht zusammen passen. Habe heute mit dem Staatsanwalt simuliert, aber alle Überlegungen uferten im Nichts aus. Der Mörder ist noch ohne Gesicht. Hoffen, dass die Soko „Kirmesleiche“ den Fall löst.“
Aus unserer Motorradfahrt wird wohl vorerst nichts  werden.“
„Ihr werdet den Mörder schon finden. Keiner ist ohne Gesicht. Prost auf einen baldigen Fahndungserfolg!“
Seit dem Kirmesmord ging bei den Frauen die Angst um. Unsere Kleinstadtidylle war aus den Fugen geraten. Selbst Maren schien ihre Unerschrockenheit verloren zu haben Lucy sah man nur noch auf ihrer Maschine von Ort zu Ort düsen. Ich hätte sie gerne beschützt, aber sie gab mir keine Chance, ihr Herz zu erobern. Unlängst fragte ich sie: „Warum lebt eine so attraktive Frau wie du eigentlich alleine. Sehnst du dich nicht nach Familie?“  Leider bekam ich nur ein Achselzucken zur Antwort. Mehr erfuhr ich nicht. Mehr gab sie nicht preis.