Mittwoch, 26. September 2018

Kirmesleichen

5. EIN ABSCHIED FÜR IMMER






Schneller als gedacht, stand das Remmidemmi an.
Der Mädels-Day und Junggesellentag sollten für alle ein unvergessliches Erlebnis werden, das sowohl den Frauenfantasien als auch dem Lustempfinden der Männer freien Raum gab. „Wo immer etwas los ist, wo uns niemand so genau kennt, da werden wir für Gaudi sorgen!“, flunkerte Tim.
„Schlimmer wird es doch wohl nicht werden!“, unkte Maren.
„Wir haben einen perfekten Plan für die Erfurttour. In dieser altehrwürdigen Universitätsstadt ist zu jeder Stunde irgendwo etwas los und am Wochenende können wir die Highlights gar nicht schaffen. Unter den 203 000 Bewohnern und den Besuchern fällt es doch gar nicht auf, wenn wir da ausflippen.“
„Die Mädelstruppe ist schon ganz erwartungsvoll und zu sämtlichen Schandtaten bereit! Die meisten kennen diese Art von Spaßveranstaltung gar nicht! Nur gut, dass auch unsere Zeit Traditionen setzt, die hoffentlich weitergetragen werden.
Endlich mal wieder Showtime! Wir  stehen schon unter Strom. Lucy hatte die ausgefallene Idee, einen Rollator zum Verkaufswagen umzugestalten. Das wird echt der Hammer. Zwei Warenkörbe übereinandergesetzt, beladen mit kleinen Liebestrunkfläschchen: „Feurige Helene“, „Süße Gaby“, „Potenzwasser“, „Kuschelkorn“ oder „Sextropfen. Leckereien wie Schokoherzen, Gummibärchen und Herzküchlein ergänzen das Angebot verführerisch. Unser Fahrwerk wird mit bunten Bändern und Herzgirlande geschmückt. Es scheint ein vielversprechendes Spektakel zu werden.“ Davon war meine Schwester jetzt schon überzeugt.
Als ich das Jannik, der es inzwischen geschafft hatte, auf ein Bier reinzukommen, erzählte, wollte er sich glatt kugeln. „Echt, so wollen diese Damen als Hausiertruppe durch die Großstadt ziehen? Das hätte ich deiner Schwester nie zugetraut. Manchmal tut sie nämlich mächtig stolz!“
„Aber wirklich nur manchmal. Ja, was veranstaltet man nicht alles des Vergnügens und der Liebe wegen. Sie zeigt ihre pure Lust auf Leben. Du weißt doch, bei uns wird alles groß aufgezogen!“
„Bei uns auch, aber ohne Spaßeffekt! Dieses nicht enden wollende Totendrama wütet ständig in meinem Kopf rum. Die Beamten der Kripo stehen alle unter starkem Aufklärungsdruck.“ Nun schloss er sekundenlang die Augen, ein Zeichen für seine Ratlosigkeit.
„Immer noch kein Vorwärtskommen im Klausbergkirmesleichenfall?“ „Nur millimeterweise! Ich habe jetzt je zwei Kollegen angesetzt, nach Parallelen zu suchen. Unsere Täter hatten es auf Frauen zwischen 20 und 30 Jahren abgesehen.  Wir halten es für unwahrscheinlich, dass der oder die Frauenmörder Einheimische sind, sonst wäre die Identitätsfrage längst geklärt. Das Opfer wurde erdrosselt, wies keine schweren Verletzungen auf, der Täter verwischte sämtliche Spuren und ließ Handtaschen und Papiere verschwinden, wie wir schlussfolgern konnten. Ich persönlich habe  jede nur denkbare Verbindung untersucht, Internetportale und Daten abgeglichen, ohne eine Erfolgsspur. Selbst das LKA setzte sämtliche wissenschaftlichen Methoden ein, um ungewissen Tötungsdelikte aufzuklären. Im Klausbergfall gehen wir davon aus, dass zwischen den Personen nur ein Austausch von Zärtlichkeiten stattgefunden hat. Keinerlei Anzeichen für Geschlechtsverkehr. Vom BKA aus hat man uns sogar einen Profiler ins Team geworfen, aber der ist auch noch nicht in das Mörderhirn eingedrungen. Wenn ein Mensch verschwindet, gibt es immer eine Spur, die kriminalistische Kunst besteht darin, diese Spur zu entdecken. Wir sind halt immer noch auf der Suche, das kommt fast einem Unfähigkeitszeugnis gleich. Es sieht so aus, als wenn der Mörder raffinierter als die Polizei in Thüringen ist. Jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt.“
„Prost auf die lebendigen Frauen und eure Superhirne!“
„Du hast recht, Verzweiflung bringt mich auch nicht weiter. Eigentlich bin ich hergekommen, um in Erfahrung zu bringen, ob Maren und Tim eine Hochzeitswunschliste haben!“ „Na klar, ist doch heute so üblich. Die findest du auf der Facebook-Seite meiner Schwester. Geschenkideen von WMF, für den kleinen und den großen Geldbeutel. Kannst dich aber auch mir anschließen. Ich möchte es so richtig krachen lassen und habe für Mitternacht ein Feuerwerk organisiert, eigens für Hochzeitsfeiern kreiert. Von der Burgterrasse aus wird es den Glückstag in halb Thüringen verkünden. Hängen wir doch einfach noch ein paar Herzknaller dran und setzen den Himmel in Liebesflammen!“ „Klasse Eingebung! Bin dabei mit einem Fünfziger! Echt erlösend, mal wieder Freude zu spüren!“ „Halte die Ohren steif und lass dir nicht jede Stunde von der Kirmesleiche trüben!“
So gegen neun Uhr an diesem außergewöhnlichen Sonnabend war der Eventbus bereits voll besetzt mit dem Rot-Weiß Erfurt-Fanclub und den Herzdamen. Keiner musste am Rad drehen, unsere Fahrzeuge waren stillgelegt. Farbenfroh sommerlich bunt gekleidet, munter gestimmt, mit Rollator-Mobil im Gepäck, starteten wir ins Vergnügen. Zur Begrüßung bekamen wir von Bens Frau Susi einen fruchtig spritzigen Cocktail serviert, für die starken Typen mit etwas mehr Alkohol. Unser Amibusfahrer hieß uns willkommen und prostete uns zu, hoffentlich alkoholfrei! So kamen wir und der Bus in Fahrt. Die Herzluftballontraube auf der Motorhaube flatterte ebenso beschwingt wie wir in den Sommertag.
„Wenn ich mir so unser Frauentrüppchen betrachte, dann stellt sich mir die Frage, welche Beine sind wohl anziehender, die der Mädels oder die der Fußballstars?“, bemerkte Robin.
„Hallo Ladys, ihr habt euch aber echt fesch herausgeputzt! Maren, Lydia, Carmen, Lisa, Ivonne und Lucy, ihr werdet heute Erfurts Attraktion Nummer eins sein!“, komplimentierte ich.
Maren erwiderte das Kompliment: „Auch ihr seid heute echte Hingucker!“
Die Marentruppe trug weiße T-Shirts, bedruckt mit roten Herzen, auf deren Rückseite ein deutliches „Tschüss, Mädchenfreiheit!“ prangte. Dazu wippten ihre kurzen ausgestellten bunten Röcke, die sie recht unschuldig und frech erscheinen ließen. Die angehende Braut, im Mittelpunkt des Spaßprogramms, deutete ihre bevorstehende Hochzeit an. In einem weißen figurbetonten Dekolleté-Kleid, das einen Blick auf ihre weiblichen Reize freigab, knielang war und sie sexy wirkend umhüllte, übertraf sie alle. „Maren und Tim trauen sich!“, konnte man auf ihrem Herz, das sie um den Hals trug, lesen.  
Tims Blicke ruhten auf ihrem Körper, als er bemerkte: „Wollen wir denn diese Schmetterlinge heute wirklich davonfliegen lassen?“ „Heute schon, bis zur Hochzeit wirst du es doch wohl noch aushalten können!“
Je nach Bedarf wurden weitere Spaßmacherdrinks gereicht, so dass wir auf der Stimmungsleiter ein gewaltiges Stück nach oben geklettert waren, ohne zu merken, dass die Türme von Dom und Severi-Kirche uns schon entgegen schauten.
Gekonnt lenkte Ben das Feiermobil in das Parkhaus am Domplatz. Als wir Richtung Grüne Lilie zogen, wo man uns zum Mittagstisch erwartete, trällerte Molli stimmungsgewaltig: „So ein Tag, so wunderschön wie heute…!“ Gleich darauf vereinten sich unsere Stimmen zum Chorgesang, der die Aufmerksamkeit der Marktleute und Passanten weckte. Wohlwollend winkte man uns zu.
In gediegener Atmosphäre speisten wir vorzüglich, schöpften wieder Kraft und Mut, um danach ganz ungezwungen in die Vergnügungswelt der Landeshauptstadt einzutauchen!
Trotz der Hitze legten wir uns die rot-weißen Schals um und stülpten die Caps auf, nahmen die nächste S-Bahn zum Stadion und ließen uns vom Fußballrausch einfangen.
„So Jungs, der Tag und die Nacht gehören uns, lassen wir die Rot-Weißen siegen und die Puppen tanzen!“, verkündete Tim übermütig, obwohl er ansonsten nicht der Aufreißer ist.
Vom Spielfieber erhitzt, drängelte Robin: „Wenn wir zeitig genug im Stadion sind, können wir wenigstens noch Atmosphäre schnuppern. Bier gibt es ja auch an jeder Ecke!
Der Durst trieb wohl einige voran. Kaum hatten wir den Einlass durchschritten, schon kam Stimmung auf. Ein Johlen, Pfeifen, Rasseln, Trompeten und verschiedene Schlachtrufe drangen bis in unsere Ohren. Arno schweifte gleich zum Fanshop ab, um seinen Söhnen die versprochenen Schals zu kaufen. Bald ertönte der Anpfiff und wir tauchten hoch konzentriert und begeistert in den Spielverlauf ein. Wutschreie und Anfeuerungsaktionen schallten aus verschiedenen Richtungen.
Der Zuschauereinsatz wurde mit einem 2:1-Heimsieg belohnt. „Bestens gelaufen! Die Polizei hatte dieses Mal die Fans im Griff!“ „So soll es auch bleiben! Auf zum nächsten Vergnügen! Mal schauen, wo wir die schönsten Frauen der Stadt aufreißen können!“
Im Bahnhofsrestaurant aßen wir noch zu Abend, um die Kondition zu stärken, danach landeten wir in der Regina-Bar, wo die leicht  bekleideten Damen ihre Körperkunst an der Stange präsentierten. Jeder amüsierte sich seinen Gelüsten entsprechend, wobei sich unser Zahlmeister Tim sehr zurückhaltend benahm. So nach und nach stiegen mir Bier und Whiskey ins Obergeschoss. Das enthemmte und ließ mich förmlich abheben. Zum Schluss habe ich nur noch rumgetänzelt, rumgeschmust und rumgeknutscht. Mit wem, das wusste ich wirklich nicht. War ja auch egal, Lucy geisterte eh wo anders rum und wollte mich doch gar nicht. „So eine verdammte Liebesscheiße!“, hätte ich schreien mögen. Schon überschlugen sich die Sinne beim Tanzen, Trinken und Grübeln. Dagegen half nur eins, mein Seelentröster namens Whiskey.
Als wir gemeinsam zum Thüringenexpress torkelten, saugte ich genüsslich die kühle Morgenluft ein. In der Erfurter Bahn muss ich wohl eingepennt sein. Erst im Taxi, das wir vor dem Heiligenstädter Bahnhof anheuerten, dämmerte es auch bei mir. „Gartenstraße bitte, letztes Haus links!“ Danach Filmriss!
Gegen elf Uhr begann ich mich so recht und schlecht in den Sonntag zu räkeln. „Wenigstens im eigenen Bett gelandet!“, tröstete mich das Gewissen. Bilder, die zeigten, wie mich Tim unversehrt durch die Haustür, die er mit seinem Schlüssel geöffnet hatte, hindurchschob, zogen an mir vorüber. Weiterhin erblickte ich mein Ebenbild, das, wie ein Vierfüßler die Treppenstufen erklomm. Zu weiteren peinlichen Erinnerungen kam es nicht, weil es plötzlich fürchterlich schrillte. „War das ein Klingelton oder nur der Aufschrei des Gehirns?“, wollte mein Verstand wissen.
„ Oh je!“ Angezogen, von der Kopfbedeckung bis zu den Füßen, die in verstaubten Schuhen mieften, lag ich auf der verwurschtelten Bettdecke. Als ich meinen strapazierten Körper, auf dem ein Brummschädel saß, zum Fenster schleppte, erkannte ich den BMW mit Duderstädter Kennzeichen.
Erneut schreckte mich der Haustürgong auf. Notgedrungen, aber im aufrechten Gang, gelangte ich nach unten. Beim Öffnen begrüßte mich Tims fröhliche Stimme. „Aufstehen die Herrschaften, der Frühstücksserviceboy ist da und bittet zu Tisch. Beeilt euch! Habe wohl meinen Schlüssel hier vergessen.“
Ich schlich treppauf ins Bad, ließ mir den kalten Wasserstrahl über den Kopf rieseln, um klar zu werden. Nach der Rasur tastete ich mich wieder in den Tag. Der Kaffeeduft und die frischen Brötchen signalisierten häusliche Gemütlichkeit.
„Hey Schwager, bist heute mein Frühstücksengel. Wie komme ich zu der Ehre? Hast wohl geahnt, dass ich unter Startschwierigkeiten leide? War gestern echt ein affengeiler feuchtfröhlicher Tag. Habe noch gar nicht alles verarbeitet, was wir losgelassen haben. Bin ich entglitten?“
„Guten Mittag du Lustmolch. Warst gestern ganz schön gewaltig im Fußball- und Liebesrausch. Ist Maren noch bei der Morgentoilette? Eigentlich wollte ich mit meiner Liebsten in den Tag schweben, aber ich glaube, das Frühstück reicht für uns drei! Die Damen scheinen ebenfalls ausgiebig gefetet zu haben. Werde‘ mal raufgucken und meine Süße wecken.“
Das blanke Entsetzen stand ihm ins Gesicht gemeißelt, als er die Treppe runter gestürzt kam. „Wo ist Maren? In ihrem Mädchenzimmer definitiv nicht. Alles unberührt, menschenleer!“ „Keine Ahnung, habe im eigenen Alkoholspiegel gedämmert, nichts von ihr gehört, nichts von ihr gesehen!“ „Was soll das heißen?“ „Ich weiß nicht, ob sie überhaupt hier gelandet ist nach dieser Frauenpowerfete. Vielleicht ist sie ja bei einer ihrer Brautjungfern mit unter die Bettdecke geschlüpft, ganz nach Lady-Day. Lass uns einen Rundruf starten, wir werden sie aus dem Rausch holen.“
„Ausgeschlafen Carmen, hier Ron! Seid ihr wohlbehalten zu Hause angekommen? Ist es Ben gelungen, gut auf euch achtzugegeben? Hat sich Maren bei dir mit eingenistet?“
„Nein, wieso? Der Morgenhahn hatte schon gekräht, als ich so lala ins Bett gefallen bin. War super faszinierend diese Travestie-Show. Haben uns köstlich amüsiert, fast nass gelacht. Halt mal, fragtest du eben, wo Maren stecken könnte?“ „Aber ja, wir wissen nicht, wo sie abgeblieben ist und suchen nach ihr.“ „Die ist doch noch im Cocktailbus gewesen, als ich raus gekrabbelt bin.“ „Ganz sicher?“ „Aber ja, hundert pro! Zum Glück hat mich mein Rolf gleich in Empfang genommen und gebettet!“ „Na dann werden wir mal die anderen wachrütteln.“ „Bestimmt hat sie bald ausgepennt und meldet sich!“
„Jetzt werde ich bei Carmen nachfragen. Als Schulfreundinnen waren sie froh, wenn die eine mal bei der anderen übernachten durfte. Wie zwei Kletten hingen die damals aneinander.
Hallo, ausgeschlafen junge Frau? Hast du den gestrigen Tag ohne Untreuemanöver überstanden?“ „Was soll die dusselige Frage. Du weißt doch, dass ich meinem Leo ewige Treue geschworen habe. War bombastisch, aber ohne Ausrutscher. Arbeitest du neuerdings für die Sittenpolizei?“
Timm, der wie versteinert mithörte, entriss mir den Hörer des Familienanschlusses. „Wir suchen nach Maren. Weißt du, wo sie ausgestiegen ist?“ „Nein, nicht genau, aber nach mir. Wir sind zuerst auf die Nester gefahren und dann nach Heiligenstadt. Erkundigt euch bei Ben, der muss es doch am besten mitbekommen haben!“ „Schönen Sonntag noch!“
Klack, der Hörer fiel zu Boden. In seiner Fassungslosigkeit wurde ich erneut aktiv. „Werde erst noch Brautjungfer Lydia aus ihren Träumen reißen!“ Langanhaltende Klingelmelodien, die eine Ewigkeit schrillten. „Guten Tag, Himmel am Apparat. Mit wem spreche ich?“ „Hallo, ist Ihre Tochter erreichbar? Ron Richter hier!“ „Bedaure, Lydia ist auf dem Weg zum Vitalpark. Wollte ihren Rausch ausschwimmen und zum Kaffeetrinken wieder zu Hause sein.“ „Ist sie alleine losgezogen?“ „Natürlich, schien eine Spontanentscheidung gefasst zu haben. Muss wohl gestern ganz schön feuchtfröhlich zugegangen sein.“ „Danke für die Auskunft. Können Sie mir bitte ihre Handynummer geben?“ „Aber selbstverständlich!“
Auch dieser Versuch schlug fehl. „Wer geht denn schon mit dem Handy zum Schwimmen oder Saunieren?“ Schweißperlen standen Tim auf der Stirn, als er diese Feststellung machte. Nun beschlich auch mich ein Angstgefühl. „ Hoffentlich kann uns der Tour-Guide genauere Auskünfte geben. Lucy haben wir auch noch nicht ausgequetscht!“ „Ich interviewe Ben und du unsere Truckerlady!“ Habe Bens Nummer gespeichert!“ Er verließ den Raum, um sich zu sammeln.
Das Klingelzeichen ging durch, doch meine Traumfrau nicht an den Apparat. Also sprach ich mit dem Anrufbeantworter. „Hey Lucy, ist Maren heute Nacht bei dir abgestiegen? Macht ihr zwei vielleicht schon eine Sonntagsspritztour oder feiert ihr noch irgendwo den Beste-Freundinnen-Abschied? Wir wissen nicht, wo mein Schwesterherz steckt. Melde dich auf jeden Fall, wenn du die Nachricht abgehört hast. Tschüss, Ron!“
„Was hat Ben gesagt?“, wollte ich augenblicklich wissen. „Halt dich fest. Er versicherte mir soeben, die Frauen wohlbehalten daheim abgeliefert zu haben. Alle waren im  Freudentaumel. Er kann sich gar nicht mehr so richtig erinnern, wo und mit wem Maren rausgesprungen ist. Seine Frau hingegen behauptet, sie habe mit Lucy den Bus in Niederorschel verlassen.“
„Jetzt stehen wir erneut vor einem Rätsel. Bei unserer Truckerlady ist keiner zu Hause, weder Maren noch Lucy haben sich gemeldet.“ „Das kann doch gar nicht möglich sein.“ „Manchmal ist auch das Unmögliche möglich und Bräute werden nur so zum Spaß entführt.“, stellte mein Sachverstand fest.
Tim schien die Geduld zu verlieren. Entnervt umrundete er mein eckiges Wohnzimmer mehrmals. „Will sich dein Schwester einen Scherz mit mir erlauben oder ihren Bräutigam auf eine Geduldsprobe stellen? Eine Braut wird doch erst nach der Trauung entführt. Hatte Maren eine Jugendliebe, die es eventuell nicht verschmerzen kann, dass sie einen anderen heiraten will?“ „Beruhige dich, so ernsthaft waren ihre früheren Beziehungen nie!“ „Wo liegt denn da die Logik des Verschwindens?“
„Vielleicht hat sie doch die Kurzschlusspanik überfallen und sie ist noch nicht bereit, ihr Singelleben, die Abenteuerlust und das Weltenbummler-Dasein aufzugeben. Frauen ticken eben gefühlsdusseliger als unsereins.
Wir haben doch unser Ostseeferiendomizil in Markgrafenheide, wo Sand, Wellenrauschen und Meeresbrise die Seele reinigen. Warum soll sie sich nicht dorthin verflüchtigt haben, um Sicherheit zu suchen, Antworten auf Zweifelsfragen oder Bestätigung?“ „Diese Ungewissheit halte ich nicht mehr aus, sie zermürbt mich regelrecht. Ich habe ihr ehrliche Gefühle entgegen gebracht und stehe nun vor einem Orakel.“ „Mir geht es ebenso.“
Die Mittagszeit war längst vorbei, als wir uns entschlossen, augenblicklich los zu düsen. „Wir müssen knapp 600 km bis nach Markgrafenheide zurücklegen, mit meiner Maschine können wir in etwa vier bis fünf Stunden dort sein  und  uns Gewissheit verschaffen. Mit deinem BMW bewältigen wir diese Strecke nicht so schnell. Nur gut, dass Mama bei ihrer Freundin urlaubt und dieses Suchtheater nicht mitbekommt.“
Während wir auf der A 7 durch eine Vielzahl von Baustellen kurvten, machten sich auch bei Tims Eltern und den Kumpels Entrüstung, Besorgnis und Angst breit. In den Sonntagabendnachrichten wurde das Entsetzen weiter geschürt:
Frau raste in den Tod
„Nur wenige Minuten vergingen zwischen der Meldung, die am Sonntagnachmittag so gegen 15.30 Uhr bei der Polizei eingegangen war und dem Todeszeitpunkt einer Bikerin, die zwischen Dingelstädt und Mühlhausen unterwegs war. Der nachfolgende VW-Fahrer berichtete, dass eine schwarze BMW mit rasantem Tempo durch die Senke der Schwarzen Hose preschte, vorbei am Gasthof Lengenfelder Warte. Auf der Geraden der Langen Mark hat die Fahrerin noch einmal so richtig aufgedreht.  Nach dem Überholverbotsschild sauste die Maschine gradlinig auf den zweiten dickstämmigen Baum auf der rechten Straßenseite zu, der das Motorrad zum Stoppen brachte. Beim Aufprall flogen Fahrzeugteile und ein Helm durch die Luft.
Für die Frau kam jede Hilfe zu spät, sie erlag noch an der Unfallstelle den schweren Kopfverletzungen. Die Ursache des Unfalls ist noch nicht geklärt.“, so der Nachrichtensprecher.
Die einzige Beruhigung für uns war, dass Maren weder ein Motorrad noch ein Zweiradführerschein besaß.
Auch unser kleines gemütliches Ferienhaus war unbewohnt. Ein Schweigen in den Abendstunden, das sich mächtig auf unsere Gemüter legte. Ratlos und hungrig kehrten wir noch in einer strandnahen Imbissbude ein, ließen unsere inzwischen zitternden Gedanken über die Ostsee schweifen und hofften, das geliebte Wesen zu Hause vorzufinden.
„Niemand kann so einfach vom Erdboden verschwinden. Wer auf der Hochzeitsglückswolke schwebt, tut sich auch nichts an.“, bemerkte Tim mit bebender Stimme. „Dieser Spaß wird langsam zum Alptraum. Keine Spur von ihr, sie kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben und müsste wissen, dass wir nach ihr suchen. Bestimmt hätte Maren angerufen, wenn etwas nicht in Ordnung gewesen wäre. Ohne ihr Smartphone geht sie lediglich ins Bett, aber auch dann liegt es auf dem Nachttisch.“ ,gab ich zu bedenken. Ein höllisches Fazit!
„Hallo Mama, Tim an der Strippe, Ron und ich platzen bald vor Zorn und Besorgnis! Habt ihr etwas von Maren in Erfahrung bringen können?“ „Wo seid ihr? Warum weiß eigentlich keiner von euch, wo das Mädchen steckt. Solche Spielchen gehen aber wirklich zu weit! Es gab heute in den späten Mittagsstunden bei uns im Eichsfeld einen tödlichen Verkehrsunfall, aber Maren hat ja gar keine Motorrad.“ „Zum Glück!“ Wie ferngesteuert informierte er seine Eltern. „Bin mit Ron an der Ostsee, haben  in Hausers Ferienhaus nachgeschaut, ob sich Maren vielleicht dort verkrochen hat. Fehlalarm! Sind auf der Rücktour. Ron möchte aber auf jeden Fall noch mal mit dem Buschauffeur reden. Kann Mitternacht werden, bis wir ankommen!“ Dann drückte er das Gespräch weg, um weiteren Fragen zu entgehen.
Bei Ben mussten wir Sturm klingeln, weil er sich schon zu Bett gelegt hatte. Aber seine Frau Susi ließ uns gleich rein, sie hatte sich noch den Spätfilm angeschaut. Als wir unser Eindringen aufgeregt begründeten, glaubte sie schwer zu hören. „Das klingt ja furchtbar, ich muss Ben wecken!“
Bitte, bitte erzählt uns genau, wie eure Rücktour verlaufen ist.“
„Der Nachmittag war echt hammermäßig. Die Mädels holten den Verkaufsrollator aus dem Bus und zogen bestens gestimmt vom Domplatz zur Krämerbrücke, postierten sich dort inmitten der kleinen originellen Lädchen und boten ihren Liebesschnaps und das Gebäck feil. Ein echtes Gaudi, das die flanierenden Passanten belustigte und zum Kauf animierte. Ab und an stürzten sie in eine Männertraube und drückten den Herren ihren Kuss-Stempel auf, vollmundig rot. Als sie weiter über die Schlösserstraße zum Anger tänzelten, war Ausverkauf.“ „Hat Maren da jemanden getroffen? Einen Bekannten vielleicht?“ „Nö, eigentlich nicht!“
„Wie ging es weiter?“,wollte Tim ungeduldig geworden,wissen. „Abendessen und Showtime! Das Travestie-Programm war echt Spitze, die Mann-Damen haben gewitzelt, getalkt und sogar eine Modenschau gezeigt. Mit der S-Bahn schwirrten wir dann zum Parkhaus, wo ich alle in meinen Bus gepackt habe. Susi servierte nach Bedarf noch ein paar Absacker. Die Rückfahrt lief lautstark, aber ohne Zwischenfälle ab. So viel wurde in meinem Bus noch nie gegackert!“
„War mein Schwesterherz auch so ausgelassen?“, wollte ich von Susi wissen. „Aber ja, es war doch ihr Fest.“ „Wenn ich mich nicht irre, dann ist sie mit Lucy Arm in Arm in Niederorschel aus dem Bus getänzelt, wie beste Freundinnen eben. Die Andere war verhältnismäßig nüchtern, Maren trällerte in den höchsten Tönen: „Jetzt geht die Party richtig los!“ „Bist du dir da absolut sicher?“ „Ja doch!“ „ Na, dann wissen wir jetzt, wo wir suchen müssen. Auf gehts! Wir werden gleich nachschauen, ob die zwei Damen ins Koma gefallen sind, denn zum Anrufen waren sie noch nicht in der Lage. Danke, habt uns sehr geholfen.“
Tim plumpste fast ein Stein vom Herzen, als er meinte: „Die beiden werden doch keine Alkoholvergiftung haben?“ „Ausgerauscht müssten sie auf jeden Fall sein. Na, dann lass uns die Püppchen mal in den Alltag zurück holen!“
In Windeseile hatten wir das große Eichsfelddorf Niederorschel erreicht. In diesem Ort waren die Bürgersteige noch gar nicht hochgeklappt. Man schien uns regelrecht zu begrüßen, sogar mit Blaulicht. „Wird hier wer von der Landesregierung erwartet? Das halbe Dorf ist ja auf den Beinen!“, schrie Tim nach vorne. Je näher wir kamen, desto unheimlicher wurde mir zumute. Als ich das Polizeiaufgebot vor Lucys Haustür ausmachte, wäre mir fast der Lenker entglitten. Vor der Absperrung zum Halten gekommen, hatte ich Mühe, die Karre aufzubocken.
Tim schrie gleich los: „Lassen Sie uns durch, es geht wahrscheinlich um meine Frau! Ich muss da rein!“ Der Helm flog auf den Bordstein und er sprang über das weiß-rote Band. Nun war auch ich nicht mehr zu halten. Ich schubste die Vorfeldpolizisten beiseite und stürmte zur Haustür. „Wir suchen unsere Mädels!“, schrie ich wie im Fieberwahn. „Eine wohnt hier!“
Im Eingangsbereich empfing uns Jannik mit weit aufgerissenen Augen und einem leeren Blick. „Lasst sie durch, das sind Zeugen, die wir brauchen.“
„Was ist hier vorgefallen? Geht es den beiden gut?“ Mir schienen die Sinne zu schwinden, als ich meinen Kripofreund betrachtete, in dessen Gesicht ein Schrei stand. So kannte ich ihn gar nicht. Er hatte den Kragen schützend hochgeschlagen, hielt sein Antlitz gesenkt, so als wolle er den Kopf in den Schultern vergraben. Auch das frische, gut gebügelte Hemd konnte sein Selbstbewusstsein nicht unterstreichen. Ich entdeckte erstmals graue Stoppeln in seinem Gesicht, die es aschfahl machten. Das Hämmern in meiner Brust wurde unerträglich. „Sind sie dem Kirmesmörder über den Weg gelaufen? Was? Wann? Wo? Wie? Warum?“,schrie es aus mir heraus.