5. EIN ABSCHIED FÜR IMMER
Schneller als gedacht, stand das Remmidemmi an.
Der
Mädels-Day und Junggesellentag sollten für alle ein unvergessliches Erlebnis
werden, das sowohl den Frauenfantasien als auch dem Lustempfinden der Männer
freien Raum gab. „Wo immer etwas los ist, wo uns niemand so genau kennt, da
werden wir für Gaudi sorgen!“, flunkerte Tim.
„Schlimmer
wird es doch wohl nicht werden!“, unkte Maren.
„Wir
haben einen perfekten Plan für die Erfurttour. In dieser altehrwürdigen
Universitätsstadt ist zu jeder Stunde irgendwo etwas los und am Wochenende
können wir die Highlights gar nicht schaffen. Unter den 203 000 Bewohnern und
den Besuchern fällt es doch gar nicht auf, wenn wir da ausflippen.“
„Die
Mädelstruppe ist schon ganz erwartungsvoll und zu sämtlichen Schandtaten
bereit! Die meisten kennen diese Art von Spaßveranstaltung gar nicht! Nur gut,
dass auch unsere Zeit Traditionen setzt, die hoffentlich weitergetragen werden.
Endlich
mal wieder Showtime! Wir stehen schon
unter Strom. Lucy hatte die ausgefallene Idee, einen Rollator zum Verkaufswagen
umzugestalten. Das wird echt der Hammer. Zwei Warenkörbe übereinandergesetzt,
beladen mit kleinen Liebestrunkfläschchen: „Feurige Helene“, „Süße Gaby“,
„Potenzwasser“, „Kuschelkorn“ oder „Sextropfen. Leckereien wie Schokoherzen,
Gummibärchen und Herzküchlein ergänzen das Angebot verführerisch. Unser
Fahrwerk wird mit bunten Bändern und Herzgirlande geschmückt. Es scheint ein
vielversprechendes Spektakel zu werden.“ Davon war meine Schwester jetzt schon
überzeugt.
Als
ich das Jannik, der es inzwischen geschafft hatte, auf ein Bier reinzukommen,
erzählte, wollte er sich glatt kugeln. „Echt, so wollen diese Damen als
Hausiertruppe durch die Großstadt ziehen? Das hätte ich deiner Schwester nie
zugetraut. Manchmal tut sie nämlich mächtig stolz!“
„Aber
wirklich nur manchmal. Ja, was veranstaltet man nicht alles des Vergnügens und
der Liebe wegen. Sie zeigt ihre pure Lust auf Leben. Du weißt doch, bei uns
wird alles groß aufgezogen!“
„Bei
uns auch, aber ohne Spaßeffekt! Dieses nicht enden wollende Totendrama wütet
ständig in meinem Kopf rum. Die Beamten der Kripo stehen alle unter starkem
Aufklärungsdruck.“ Nun schloss er sekundenlang die Augen, ein Zeichen für seine
Ratlosigkeit.
„Immer
noch kein Vorwärtskommen im Klausbergkirmesleichenfall?“ „Nur millimeterweise!
Ich habe jetzt je zwei Kollegen angesetzt, nach Parallelen zu suchen. Unsere
Täter hatten es auf Frauen zwischen 20 und 30 Jahren abgesehen. Wir halten es für unwahrscheinlich, dass der
oder die Frauenmörder Einheimische sind, sonst wäre die Identitätsfrage längst
geklärt. Das Opfer wurde erdrosselt, wies keine schweren Verletzungen auf, der
Täter verwischte sämtliche Spuren und ließ Handtaschen und Papiere verschwinden,
wie wir schlussfolgern konnten. Ich persönlich habe jede nur denkbare Verbindung untersucht,
Internetportale und Daten abgeglichen, ohne eine Erfolgsspur. Selbst das LKA
setzte sämtliche wissenschaftlichen Methoden ein, um ungewissen Tötungsdelikte
aufzuklären. Im Klausbergfall gehen wir davon aus, dass zwischen den Personen
nur ein Austausch von Zärtlichkeiten stattgefunden hat. Keinerlei Anzeichen für
Geschlechtsverkehr. Vom BKA aus hat man uns sogar einen Profiler ins Team
geworfen, aber der ist auch noch nicht in das Mörderhirn eingedrungen. Wenn ein
Mensch verschwindet, gibt es immer eine Spur, die kriminalistische Kunst
besteht darin, diese Spur zu entdecken. Wir sind halt immer noch auf der Suche,
das kommt fast einem Unfähigkeitszeugnis gleich. Es sieht so aus, als wenn der
Mörder raffinierter als die Polizei in Thüringen ist. Jedenfalls zum jetzigen
Zeitpunkt.“
„Prost
auf die lebendigen Frauen und eure Superhirne!“
„Du
hast recht, Verzweiflung bringt mich auch nicht weiter. Eigentlich bin ich
hergekommen, um in Erfahrung zu bringen, ob Maren und Tim eine
Hochzeitswunschliste haben!“ „Na klar, ist doch heute so üblich. Die findest du
auf der Facebook-Seite meiner Schwester. Geschenkideen von WMF, für den kleinen
und den großen Geldbeutel. Kannst dich aber auch mir anschließen. Ich möchte es
so richtig krachen lassen und habe für Mitternacht ein Feuerwerk organisiert,
eigens für Hochzeitsfeiern kreiert. Von der Burgterrasse aus wird es den
Glückstag in halb Thüringen verkünden. Hängen wir doch einfach noch ein paar
Herzknaller dran und setzen den Himmel in Liebesflammen!“ „Klasse Eingebung!
Bin dabei mit einem Fünfziger! Echt erlösend, mal wieder Freude zu spüren!“
„Halte die Ohren steif und lass dir nicht jede Stunde von der Kirmesleiche
trüben!“
So
gegen neun Uhr an diesem außergewöhnlichen Sonnabend war der Eventbus bereits
voll besetzt mit dem Rot-Weiß Erfurt-Fanclub und den Herzdamen. Keiner musste
am Rad drehen, unsere Fahrzeuge waren stillgelegt. Farbenfroh sommerlich bunt
gekleidet, munter gestimmt, mit Rollator-Mobil im Gepäck, starteten wir ins
Vergnügen. Zur Begrüßung bekamen wir von Bens Frau Susi einen fruchtig
spritzigen Cocktail serviert, für die starken Typen mit etwas mehr Alkohol.
Unser Amibusfahrer hieß uns willkommen und prostete uns zu, hoffentlich
alkoholfrei! So kamen wir und der Bus in Fahrt. Die Herzluftballontraube auf
der Motorhaube flatterte ebenso beschwingt wie wir in den Sommertag.
„Wenn
ich mir so unser Frauentrüppchen betrachte, dann stellt sich mir die Frage,
welche Beine sind wohl anziehender, die der Mädels oder die der Fußballstars?“,
bemerkte Robin.
„Hallo
Ladys, ihr habt euch aber echt fesch herausgeputzt! Maren, Lydia, Carmen, Lisa,
Ivonne und Lucy, ihr werdet heute Erfurts Attraktion Nummer eins sein!“,
komplimentierte ich.
Maren
erwiderte das Kompliment: „Auch ihr seid heute echte Hingucker!“
Die
Marentruppe trug weiße T-Shirts, bedruckt mit roten Herzen, auf deren Rückseite
ein deutliches „Tschüss, Mädchenfreiheit!“ prangte. Dazu wippten ihre kurzen
ausgestellten bunten Röcke, die sie recht unschuldig und frech erscheinen
ließen. Die angehende Braut, im Mittelpunkt des Spaßprogramms, deutete ihre
bevorstehende Hochzeit an. In einem weißen figurbetonten Dekolleté-Kleid, das
einen Blick auf ihre weiblichen Reize freigab, knielang war und sie sexy
wirkend umhüllte, übertraf sie alle. „Maren und Tim trauen sich!“, konnte man
auf ihrem Herz, das sie um den Hals trug, lesen.
Tims
Blicke ruhten auf ihrem Körper, als er bemerkte: „Wollen wir denn diese
Schmetterlinge heute wirklich davonfliegen lassen?“ „Heute schon, bis zur
Hochzeit wirst du es doch wohl noch aushalten können!“
Je
nach Bedarf wurden weitere Spaßmacherdrinks gereicht, so dass wir auf der
Stimmungsleiter ein gewaltiges Stück nach oben geklettert waren, ohne zu
merken, dass die Türme von Dom und Severi-Kirche uns schon entgegen schauten.
Gekonnt
lenkte Ben das Feiermobil in das Parkhaus am Domplatz. Als wir Richtung Grüne
Lilie zogen, wo man uns zum Mittagstisch erwartete, trällerte Molli
stimmungsgewaltig: „So ein Tag, so wunderschön wie heute…!“ Gleich darauf
vereinten sich unsere Stimmen zum Chorgesang, der die Aufmerksamkeit der
Marktleute und Passanten weckte. Wohlwollend winkte man uns zu.
In
gediegener Atmosphäre speisten wir vorzüglich, schöpften wieder Kraft und Mut,
um danach ganz ungezwungen in die Vergnügungswelt der Landeshauptstadt
einzutauchen!
Trotz
der Hitze legten wir uns die rot-weißen Schals um und stülpten die Caps auf,
nahmen die nächste S-Bahn zum Stadion und ließen uns vom Fußballrausch
einfangen.
„So
Jungs, der Tag und die Nacht gehören uns, lassen wir die Rot-Weißen siegen und
die Puppen tanzen!“, verkündete Tim übermütig, obwohl er ansonsten nicht der
Aufreißer ist.
Vom
Spielfieber erhitzt, drängelte Robin: „Wenn wir zeitig genug im Stadion sind,
können wir wenigstens noch Atmosphäre schnuppern. Bier gibt es ja auch an jeder
Ecke!
Der
Durst trieb wohl einige voran. Kaum hatten wir den Einlass durchschritten,
schon kam Stimmung auf. Ein Johlen, Pfeifen, Rasseln, Trompeten und
verschiedene Schlachtrufe drangen bis in unsere Ohren. Arno schweifte gleich
zum Fanshop ab, um seinen Söhnen die versprochenen Schals zu kaufen. Bald
ertönte der Anpfiff und wir tauchten hoch konzentriert und begeistert in den
Spielverlauf ein. Wutschreie und Anfeuerungsaktionen schallten aus verschiedenen
Richtungen.
Der
Zuschauereinsatz wurde mit einem 2:1-Heimsieg belohnt. „Bestens gelaufen! Die
Polizei hatte dieses Mal die Fans im Griff!“ „So soll es auch bleiben! Auf zum
nächsten Vergnügen! Mal schauen, wo wir die schönsten Frauen der Stadt aufreißen
können!“
Im
Bahnhofsrestaurant aßen wir noch zu Abend, um die Kondition zu stärken, danach
landeten wir in der Regina-Bar, wo die leicht
bekleideten Damen ihre Körperkunst an der Stange präsentierten. Jeder
amüsierte sich seinen Gelüsten entsprechend, wobei sich unser Zahlmeister Tim
sehr zurückhaltend benahm. So nach und nach stiegen mir Bier und Whiskey ins
Obergeschoss. Das enthemmte und ließ mich förmlich abheben. Zum Schluss habe
ich nur noch rumgetänzelt, rumgeschmust und rumgeknutscht. Mit wem, das wusste
ich wirklich nicht. War ja auch egal, Lucy geisterte eh wo anders rum und
wollte mich doch gar nicht. „So eine verdammte Liebesscheiße!“, hätte ich
schreien mögen. Schon überschlugen sich die Sinne beim Tanzen, Trinken und
Grübeln. Dagegen half nur eins, mein Seelentröster namens Whiskey.
Als
wir gemeinsam zum Thüringenexpress torkelten, saugte ich genüsslich die kühle
Morgenluft ein. In der Erfurter Bahn muss ich wohl eingepennt sein. Erst im
Taxi, das wir vor dem Heiligenstädter Bahnhof anheuerten, dämmerte es auch bei
mir. „Gartenstraße bitte, letztes Haus links!“ Danach Filmriss!
Gegen
elf Uhr begann ich mich so recht und schlecht in den Sonntag zu räkeln.
„Wenigstens im eigenen Bett gelandet!“, tröstete mich das Gewissen. Bilder, die
zeigten, wie mich Tim unversehrt durch die Haustür, die er mit seinem Schlüssel
geöffnet hatte, hindurchschob, zogen an mir vorüber. Weiterhin erblickte ich
mein Ebenbild, das, wie ein Vierfüßler die Treppenstufen erklomm. Zu weiteren
peinlichen Erinnerungen kam es nicht, weil es plötzlich fürchterlich schrillte.
„War das ein Klingelton oder nur der Aufschrei des Gehirns?“, wollte mein
Verstand wissen.
„
Oh je!“ Angezogen, von der Kopfbedeckung bis zu den Füßen, die in verstaubten
Schuhen mieften, lag ich auf der verwurschtelten Bettdecke. Als ich meinen
strapazierten Körper, auf dem ein Brummschädel saß, zum Fenster schleppte,
erkannte ich den BMW mit Duderstädter Kennzeichen.
Erneut
schreckte mich der Haustürgong auf. Notgedrungen, aber im aufrechten Gang,
gelangte ich nach unten. Beim Öffnen begrüßte mich Tims fröhliche Stimme.
„Aufstehen die Herrschaften, der Frühstücksserviceboy ist da und bittet zu
Tisch. Beeilt euch! Habe wohl meinen Schlüssel hier vergessen.“
Ich
schlich treppauf ins Bad, ließ mir den kalten Wasserstrahl über den Kopf
rieseln, um klar zu werden. Nach der Rasur tastete ich mich wieder in den Tag.
Der Kaffeeduft und die frischen Brötchen signalisierten häusliche
Gemütlichkeit.
„Hey
Schwager, bist heute mein Frühstücksengel. Wie komme ich zu der Ehre? Hast wohl
geahnt, dass ich unter Startschwierigkeiten leide? War gestern echt ein
affengeiler feuchtfröhlicher Tag. Habe noch gar nicht alles verarbeitet, was
wir losgelassen haben. Bin ich entglitten?“
„Guten
Mittag du Lustmolch. Warst gestern ganz schön gewaltig im Fußball- und
Liebesrausch. Ist Maren noch bei der Morgentoilette? Eigentlich wollte ich mit
meiner Liebsten in den Tag schweben, aber ich glaube, das Frühstück reicht für
uns drei! Die Damen scheinen ebenfalls ausgiebig gefetet zu haben. Werde‘ mal
raufgucken und meine Süße wecken.“
Das
blanke Entsetzen stand ihm ins Gesicht gemeißelt, als er die Treppe runter gestürzt
kam. „Wo ist Maren? In ihrem Mädchenzimmer definitiv nicht. Alles unberührt,
menschenleer!“ „Keine Ahnung, habe im eigenen Alkoholspiegel gedämmert, nichts
von ihr gehört, nichts von ihr gesehen!“ „Was soll das heißen?“ „Ich weiß
nicht, ob sie überhaupt hier gelandet ist nach dieser Frauenpowerfete.
Vielleicht ist sie ja bei einer ihrer Brautjungfern mit unter die Bettdecke
geschlüpft, ganz nach Lady-Day. Lass uns einen Rundruf starten, wir werden sie
aus dem Rausch holen.“
„Ausgeschlafen
Carmen, hier Ron! Seid ihr wohlbehalten zu Hause angekommen? Ist es Ben gelungen,
gut auf euch achtzugegeben? Hat sich Maren bei dir mit eingenistet?“
„Nein,
wieso? Der Morgenhahn hatte schon gekräht, als ich so lala ins Bett gefallen
bin. War super faszinierend diese Travestie-Show. Haben uns köstlich amüsiert,
fast nass gelacht. Halt mal, fragtest du eben, wo Maren stecken könnte?“ „Aber
ja, wir wissen nicht, wo sie abgeblieben ist und suchen nach ihr.“ „Die ist
doch noch im Cocktailbus gewesen, als ich raus gekrabbelt bin.“ „Ganz sicher?“
„Aber ja, hundert pro! Zum Glück hat mich mein Rolf gleich in Empfang genommen
und gebettet!“ „Na dann werden wir mal die anderen wachrütteln.“ „Bestimmt hat
sie bald ausgepennt und meldet sich!“
„Jetzt
werde ich bei Carmen nachfragen. Als Schulfreundinnen waren sie froh, wenn die
eine mal bei der anderen übernachten durfte. Wie zwei Kletten hingen die damals
aneinander.
Hallo,
ausgeschlafen junge Frau? Hast du den gestrigen Tag ohne Untreuemanöver
überstanden?“ „Was soll die dusselige Frage. Du weißt doch, dass ich meinem Leo
ewige Treue geschworen habe. War bombastisch, aber ohne Ausrutscher. Arbeitest
du neuerdings für die Sittenpolizei?“
Timm,
der wie versteinert mithörte, entriss mir den Hörer des Familienanschlusses.
„Wir suchen nach Maren. Weißt du, wo sie ausgestiegen ist?“ „Nein, nicht genau,
aber nach mir. Wir sind zuerst auf die Nester gefahren und dann nach
Heiligenstadt. Erkundigt euch bei Ben, der muss es doch am besten mitbekommen
haben!“ „Schönen Sonntag noch!“
Klack,
der Hörer fiel zu Boden. In seiner Fassungslosigkeit wurde ich erneut aktiv.
„Werde erst noch Brautjungfer Lydia aus ihren Träumen reißen!“ Langanhaltende
Klingelmelodien, die eine Ewigkeit schrillten. „Guten Tag, Himmel am Apparat.
Mit wem spreche ich?“ „Hallo, ist Ihre Tochter erreichbar? Ron Richter hier!“
„Bedaure, Lydia ist auf dem Weg zum Vitalpark. Wollte ihren Rausch ausschwimmen
und zum Kaffeetrinken wieder zu Hause sein.“ „Ist sie alleine losgezogen?“
„Natürlich, schien eine Spontanentscheidung gefasst zu haben. Muss wohl gestern
ganz schön feuchtfröhlich zugegangen sein.“ „Danke für die Auskunft. Können Sie
mir bitte ihre Handynummer geben?“ „Aber selbstverständlich!“
Auch
dieser Versuch schlug fehl. „Wer geht denn schon mit dem Handy zum Schwimmen
oder Saunieren?“ Schweißperlen standen Tim auf der Stirn, als er diese
Feststellung machte. Nun beschlich auch mich ein Angstgefühl. „ Hoffentlich
kann uns der Tour-Guide genauere Auskünfte geben. Lucy haben wir auch noch
nicht ausgequetscht!“ „Ich interviewe Ben und du unsere Truckerlady!“ Habe Bens
Nummer gespeichert!“ Er verließ den Raum, um sich zu sammeln.
Das
Klingelzeichen ging durch, doch meine Traumfrau nicht an den Apparat. Also
sprach ich mit dem Anrufbeantworter. „Hey Lucy, ist Maren heute Nacht bei dir
abgestiegen? Macht ihr zwei vielleicht schon eine Sonntagsspritztour oder
feiert ihr noch irgendwo den Beste-Freundinnen-Abschied? Wir wissen nicht, wo
mein Schwesterherz steckt. Melde dich auf jeden Fall, wenn du die Nachricht
abgehört hast. Tschüss, Ron!“
„Was
hat Ben gesagt?“, wollte ich augenblicklich wissen. „Halt dich fest. Er
versicherte mir soeben, die Frauen wohlbehalten daheim abgeliefert zu haben.
Alle waren im Freudentaumel. Er kann
sich gar nicht mehr so richtig erinnern, wo und mit wem Maren rausgesprungen
ist. Seine Frau hingegen behauptet, sie habe mit Lucy den Bus in Niederorschel
verlassen.“
„Jetzt
stehen wir erneut vor einem Rätsel. Bei unserer Truckerlady ist keiner zu
Hause, weder Maren noch Lucy haben sich gemeldet.“ „Das kann doch gar nicht
möglich sein.“ „Manchmal ist auch das Unmögliche möglich und Bräute werden nur
so zum Spaß entführt.“, stellte mein Sachverstand fest.
Tim
schien die Geduld zu verlieren. Entnervt umrundete er mein eckiges Wohnzimmer
mehrmals. „Will sich dein Schwester einen Scherz mit mir erlauben oder ihren
Bräutigam auf eine Geduldsprobe stellen? Eine Braut wird doch erst nach der
Trauung entführt. Hatte Maren eine Jugendliebe, die es eventuell nicht
verschmerzen kann, dass sie einen anderen heiraten will?“ „Beruhige dich, so
ernsthaft waren ihre früheren Beziehungen nie!“ „Wo liegt denn da die Logik des
Verschwindens?“
„Vielleicht
hat sie doch die Kurzschlusspanik überfallen und sie ist noch nicht bereit, ihr
Singelleben, die Abenteuerlust und das Weltenbummler-Dasein aufzugeben. Frauen
ticken eben gefühlsdusseliger als unsereins.
Wir
haben doch unser Ostseeferiendomizil in Markgrafenheide, wo Sand,
Wellenrauschen und Meeresbrise die Seele reinigen. Warum soll sie sich nicht
dorthin verflüchtigt haben, um Sicherheit zu suchen, Antworten auf
Zweifelsfragen oder Bestätigung?“ „Diese Ungewissheit halte ich nicht mehr aus,
sie zermürbt mich regelrecht. Ich habe ihr ehrliche Gefühle entgegen gebracht
und stehe nun vor einem Orakel.“ „Mir geht es ebenso.“
Die
Mittagszeit war längst vorbei, als wir uns entschlossen, augenblicklich los zu
düsen. „Wir müssen knapp 600 km bis nach Markgrafenheide zurücklegen, mit
meiner Maschine können wir in etwa vier bis fünf Stunden dort sein und uns Gewissheit verschaffen. Mit deinem BMW
bewältigen wir diese Strecke nicht so schnell. Nur gut, dass Mama bei ihrer
Freundin urlaubt und dieses Suchtheater nicht mitbekommt.“
Während
wir auf der A 7 durch eine Vielzahl von Baustellen kurvten, machten sich auch
bei Tims Eltern und den Kumpels Entrüstung, Besorgnis und Angst breit. In den
Sonntagabendnachrichten wurde das Entsetzen weiter geschürt:
Frau raste in den Tod
„Nur
wenige Minuten vergingen zwischen der Meldung, die am Sonntagnachmittag so
gegen 15.30 Uhr bei der Polizei eingegangen war und dem Todeszeitpunkt einer
Bikerin, die zwischen Dingelstädt und Mühlhausen unterwegs war. Der nachfolgende
VW-Fahrer berichtete, dass eine schwarze BMW mit rasantem Tempo durch die Senke
der Schwarzen Hose preschte, vorbei am Gasthof Lengenfelder Warte. Auf der
Geraden der Langen Mark hat die Fahrerin noch einmal so richtig aufgedreht. Nach dem Überholverbotsschild sauste die
Maschine gradlinig auf den zweiten dickstämmigen Baum auf der rechten
Straßenseite zu, der das Motorrad zum Stoppen brachte. Beim Aufprall flogen
Fahrzeugteile und ein Helm durch die Luft.
Für
die Frau kam jede Hilfe zu spät, sie erlag noch an der Unfallstelle den schweren
Kopfverletzungen. Die Ursache des Unfalls ist noch nicht geklärt.“, so der
Nachrichtensprecher.
Die
einzige Beruhigung für uns war, dass Maren weder ein Motorrad noch ein
Zweiradführerschein besaß.
Auch
unser kleines gemütliches Ferienhaus war unbewohnt. Ein Schweigen in den
Abendstunden, das sich mächtig auf unsere Gemüter legte. Ratlos und hungrig
kehrten wir noch in einer strandnahen Imbissbude ein, ließen unsere inzwischen
zitternden Gedanken über die Ostsee schweifen und hofften, das geliebte Wesen
zu Hause vorzufinden.
„Niemand
kann so einfach vom Erdboden verschwinden. Wer auf der Hochzeitsglückswolke
schwebt, tut sich auch nichts an.“, bemerkte Tim mit bebender Stimme. „Dieser
Spaß wird langsam zum Alptraum. Keine Spur von ihr, sie kann sich doch nicht in
Luft aufgelöst haben und müsste wissen, dass wir nach ihr suchen. Bestimmt
hätte Maren angerufen, wenn etwas nicht in Ordnung gewesen wäre. Ohne ihr
Smartphone geht sie lediglich ins Bett, aber auch dann liegt es auf dem Nachttisch.“
,gab ich zu bedenken. Ein höllisches Fazit!
„Hallo
Mama, Tim an der Strippe, Ron und ich platzen bald vor Zorn und Besorgnis! Habt
ihr etwas von Maren in Erfahrung bringen können?“ „Wo seid ihr? Warum weiß eigentlich
keiner von euch, wo das Mädchen steckt. Solche Spielchen gehen aber wirklich zu
weit! Es gab heute in den späten Mittagsstunden bei uns im Eichsfeld einen
tödlichen Verkehrsunfall, aber Maren hat ja gar keine Motorrad.“ „Zum Glück!“
Wie ferngesteuert informierte er seine Eltern. „Bin mit Ron an der Ostsee, haben
in Hausers Ferienhaus nachgeschaut, ob
sich Maren vielleicht dort verkrochen hat. Fehlalarm! Sind auf der Rücktour. Ron
möchte aber auf jeden Fall noch mal mit dem Buschauffeur reden. Kann Mitternacht
werden, bis wir ankommen!“ Dann drückte er das Gespräch weg, um weiteren Fragen
zu entgehen.
Bei
Ben mussten wir Sturm klingeln, weil er sich schon zu Bett gelegt hatte. Aber
seine Frau Susi ließ uns gleich rein, sie hatte sich noch den Spätfilm angeschaut.
Als wir unser Eindringen aufgeregt begründeten, glaubte sie schwer zu hören. „Das
klingt ja furchtbar, ich muss Ben wecken!“
Bitte,
bitte erzählt uns genau, wie eure Rücktour verlaufen ist.“
„Der
Nachmittag war echt hammermäßig. Die Mädels holten den Verkaufsrollator aus dem
Bus und zogen bestens gestimmt vom Domplatz zur Krämerbrücke, postierten sich
dort inmitten der kleinen originellen Lädchen und boten ihren Liebesschnaps und
das Gebäck feil. Ein echtes Gaudi, das die flanierenden Passanten belustigte
und zum Kauf animierte. Ab und an stürzten sie in eine Männertraube und
drückten den Herren ihren Kuss-Stempel auf, vollmundig rot. Als sie weiter über
die Schlösserstraße zum Anger tänzelten, war Ausverkauf.“ „Hat Maren da
jemanden getroffen? Einen Bekannten vielleicht?“ „Nö, eigentlich nicht!“
„Wie
ging es weiter?“,wollte Tim ungeduldig geworden,wissen. „Abendessen und
Showtime! Das Travestie-Programm war echt Spitze, die Mann-Damen haben
gewitzelt, getalkt und sogar eine Modenschau gezeigt. Mit der S-Bahn schwirrten
wir dann zum Parkhaus, wo ich alle in meinen Bus gepackt habe. Susi servierte
nach Bedarf noch ein paar Absacker. Die Rückfahrt lief lautstark, aber ohne
Zwischenfälle ab. So viel wurde in meinem Bus noch nie gegackert!“
„War
mein Schwesterherz auch so ausgelassen?“, wollte ich von Susi wissen. „Aber ja,
es war doch ihr Fest.“ „Wenn ich mich nicht irre, dann ist sie mit Lucy Arm in
Arm in Niederorschel aus dem Bus getänzelt, wie beste Freundinnen eben. Die
Andere war verhältnismäßig nüchtern, Maren trällerte in den höchsten Tönen: „Jetzt
geht die Party richtig los!“ „Bist du dir da absolut sicher?“ „Ja doch!“ „ Na,
dann wissen wir jetzt, wo wir suchen müssen. Auf gehts! Wir werden gleich
nachschauen, ob die zwei Damen ins Koma gefallen sind, denn zum Anrufen waren
sie noch nicht in der Lage. Danke, habt uns sehr geholfen.“
Tim
plumpste fast ein Stein vom Herzen, als er meinte: „Die beiden werden doch
keine Alkoholvergiftung haben?“ „Ausgerauscht müssten sie auf jeden Fall sein.
Na, dann lass uns die Püppchen mal in den Alltag zurück holen!“
In
Windeseile hatten wir das große Eichsfelddorf Niederorschel erreicht. In diesem
Ort waren die Bürgersteige noch gar nicht hochgeklappt. Man schien uns
regelrecht zu begrüßen, sogar mit Blaulicht. „Wird hier wer von der
Landesregierung erwartet? Das halbe Dorf ist ja auf den Beinen!“, schrie Tim
nach vorne. Je näher wir kamen, desto unheimlicher wurde mir zumute. Als ich
das Polizeiaufgebot vor Lucys Haustür ausmachte, wäre mir fast der Lenker entglitten.
Vor der Absperrung zum Halten gekommen, hatte ich Mühe, die Karre aufzubocken.
Tim
schrie gleich los: „Lassen Sie uns durch, es geht wahrscheinlich um meine Frau!
Ich muss da rein!“ Der Helm flog auf den Bordstein und er sprang über das
weiß-rote Band. Nun war auch ich nicht mehr zu halten. Ich schubste die Vorfeldpolizisten
beiseite und stürmte zur Haustür. „Wir suchen unsere Mädels!“, schrie ich wie
im Fieberwahn. „Eine wohnt hier!“
Im
Eingangsbereich empfing uns Jannik mit weit aufgerissenen Augen und einem
leeren Blick. „Lasst sie durch, das sind Zeugen, die wir brauchen.“
„Was
ist hier vorgefallen? Geht es den beiden gut?“ Mir schienen die Sinne zu
schwinden, als ich meinen Kripofreund betrachtete, in dessen Gesicht ein Schrei
stand. So kannte ich ihn gar nicht. Er hatte den Kragen schützend
hochgeschlagen, hielt sein Antlitz gesenkt, so als wolle er den Kopf in den
Schultern vergraben. Auch das frische, gut gebügelte Hemd konnte sein
Selbstbewusstsein nicht unterstreichen. Ich entdeckte erstmals graue Stoppeln
in seinem Gesicht, die es aschfahl machten. Das Hämmern in meiner Brust wurde
unerträglich. „Sind sie dem Kirmesmörder über den Weg gelaufen? Was? Wann? Wo?
Wie? Warum?“,schrie es aus mir heraus.