Kirmesleichen
von Irmhild Ehrenberg
Inhaltsverzeichnis
1. Kirmesrausch und Leichenfund
2. Ermittlungen enden im Nichts
3. Lucyiträume
4. Mühlhäuser Kirmes und Worbisevent im Leichenchenschatten
5. Ein Abschied für immer
6. Ominöse Enthüllungen
Kirmesleichen
1.KIRMESRAUSCH UND LEICHENFUNDEin Event sollte dieser Pfingstmontag werden, aber er zog eine Blutspur durch mein Herz und katapultierte mich an den Abgrund des Daseins.
Fast
sommerliche Temperaturen verliehen dem Tag einen wahren Glanz. Als am zeitigen
Morgen die ersten Sonnenstrahlen meine Nasenspitze kitzelten, spürte ich die
Leichtigkeit des Lebens. Kaiserwetter, Kirmeswetter, Jubiläums-und
Geburtstagswetter. Das war heute mein Tag, denn genau vor dreißig Jahren hatte
ich den ersten Lebensschrei von mir gegeben. Außerdem konnten meine Partner und
ich auf unser fünfjähriges Firmenjubiläum zurückblicken. Ich fühlte mich
einfach königlich in meiner Haut, der Familie, der Berufswelt, dem
Freundeskreis und in meiner Heimat Thüringen, dem Grünen Herz Deutschlands, wo
die herbe Schönheit der Landschaft mit kirchengekrönten Städten und fachwerkgeschmückten
Taldörfern von Handwerkskunst und Tradition zeugen. Unser besonderer
Menschschlag wird als heimatliebend, schaffensfreudig, grundehrlich,
hilfsbereit, gastfreundlich und gottgefällig charakterisiert.
Davon
wollte ich heute meine Gäste überzeugen. Mal so richtig auftischen und auf die Pauke hauen, ebenso wie die
Umzugsmusikanten der Heimensteiner Kirmes.
„Wir
haben in Heiligenstadt mehrere Kirmesvereine. Den Auftakt der Festivitäten
macht die Kirmesgemeinde St. Ägidien. Ende April gibt es da schon die ersten
Ständchenumzüge durch die Innenstadt und Kirchweihgottesdienste. Aber das
Eierkettenfest auf dem Klausberg ist in jedem Jahr eine Veranstaltung der
Extraklasse. Traditionsgemäß am zweiten Pfingsttag feiern die Heiligenstädter
in der Klausbergkirche die Heilige Messe in Verbindung mit einem großen
Volksfest. Das bestens vorbereitet und organisiert wird von den Bewohnern des
Straßenzuges.
Der
Heimenstein ist die älteste Ansiedlung der Stadt, die bereits seit 1363 einen
Kirmesburschenverein hat. Zu Pfingsten wird
das Wohngebiet um den Klausberg zur
Festmeile. Da beginnt das Kirmesvergnügen bereits am Sonnabend mit der Vorfeier.
In den vergangenen Jahren sorgten die Moderatoren der Landeswelle Thüringen bis
Mitternacht für Spaß, Stimmung und Unterhaltung.
Am
nächsten Tag werden die Feierlichkeiten mit Gottesdienst, Frühschoppen und
Kirmeswalzer fortgesetzt. Die Highlights kann man aber am Pfingstmontag
erleben. Bereits in den frühen Morgenstunden beginnen die Bewohner ihren
Straßenzug einmalig zu schmücken, in dem kunstvoll aufgefädelte
Eierketten mit viel Liebe und Sorgfalt von Haus zu Haus gespannt werden. Man
möchte verhindern, dass Wetterkapriolen oder zerstörerische Hände im Vorfeld
Unheil anrichten. Danach versammelt sich die Kirmesgesellschaft zur Prozession,
die von der Sant Marie Kirche zur Klausbergkapelle führt.
Zu
einem wahren Besuchermagneten ist der große Festumzug geworden, der in der
Mittagszeit bestaunt werden kann.
Wer
tüchtig arbeitet, kann auch tüchtig feiern, pflegte mein Vater zu sagen. Wir Eichsfelder sind Lustnaturen. Ob Schlachtekohl,
Polterabend, Hochzeit, Geburtstag, Kindtaufe, Vereinsvergnügen oder
Kirchweihfest, alles wird zünftig gefeiert. Besonders beliebt bei Alt und Jung
sind in den Dörfern und Städten die Kirmesvergnügen.
Es
hätte also kein besseres Panorama für mein Feiervorhaben geben können.
Ganz
Heiligenstadt war auf den Beinen und erwartete ein Publikum aus nah und fern,
das von Jahr zu Jahr anwuchs. Diesmal gehörte die Belegschaft der „ Hauser-
Farb- und Fassadenprofis“ auch dazu. Um 11:00 Uhr, nach dem Kirchgang, trafen meine Gäste ein. Tim fuhr pünktlich mit dem
Firmenkleinbus in der Gartenstraße vor, wo unser Haus nebst Werkstatt im
Terrakotta-Farbton unübersehbar leuchtet. Lucy, Fabian, Manni und David, unsere
Angestellten, stürmten erwartungsfroh
auf mich zu. Kaum angekommen, servierten Mama und Maren den Begrüßungssekt und
luden zum Häppchenfrühstück in den Garten ein. Ich hieß jeden Einzelnen
herzlich willkommen. Dann nahm ich stolz die Gratulationen entgegen. „Danke,
danke, ich bin einfach überwältigt! Aber nun lasst uns feiern. Die
Menschenmassen ziehen bereits Richtung Lindenallee. Wir wollen doch den
einmaligen Festumzug nicht verpassen!“
Es
war schon mächtig was los in der Innenstadt: Straßen gesperrt,
Sicherheitskräfte postiert! Männer in weißen Hemden mit Glücksgesichtern, die
Zigarette im Mundwinkel, eine Büchse Bier in der einen Hand und ein hübsches
Mädchen an der anderen, so zogen sie an uns vorüber. Familien mit Kindern,
groß, klein, die Buggys luftballonbeflaggt, schlängelten sich durch die
Menschenmassen.
Sicher
wollten sie mit ihren Kleinen noch zum Eisstand, ehe das große Spektakel seinen
Lauf nahm. „Hier Softeis, cremig, fruchtig, sahnig frisch. Schoko, Erdbeere,
Vanille, Haselnuss und vieles mehr!“ Das klang lecker. Da konnte Manni, das Süßmaul,
nicht widerstehen. „Zwei Sekunden nur! Bitte wartet!“
Neugierige
Zuschauer und bunt geschmückte Gruppen, die sich bereits neben stolzen Reitern
versammelt hatten reihten sich ein. Fahnen wurden geschwenkt, Plakate entrollt,
Instrumente gestimmt und Pferdegetrampel drang an unsere Ohren. Es dauerte etwa fünfzehn Minuten, bis sich
alle Aktiven zu einem gut organisierten
Festumzug formierten. Dieser kam vom Klausberg aus ins Rollen. Wir hatten uns
einen Platz in der Lindenallee, erste Reihe, direkt vor dem Eingangsportal der
Lorenz-Kellner-Schulen sichern können. „Hier wird euch nichts entgehen! Die
drei Herolde, hoch zu Ross, führen traditionell den Umzug an!“
Als
die Klänge der ersten Musikkapelle zu uns vor drangen, explodierte das
Kirmesereignis. Die kunst- und liebevoll gestalteten Motivwagen, die mit Humor
und Kritik brisante Stadtthemen und Allerweltsnachrichten aufgespießt hatten,
wurden mit viel Applaus und Hallo begrüßt. Trachtengruppen, Ranger, Schul-,
Sport- Reit- und Heimatvereine zogen teilweise in ihrer mittelalterlichen oder
traditionellen Kleidung viele bewundernde Blicke auf sich. Ebenso umjubelt
wurde die prächtig geschmückte Kirmeskutsche mit Propst, Landrat und
Bürgermeister.
Im
ersten Block marschierten auch die mit Schärpen gezierten Kirmesburschen nebst ihren in Ballkleider gehüllten Mädels. Stolz
und würdevoll zogen sie an uns vorüber. „Heutzutage werden die Kirmesmajestäten und
Ehrengäste bei Regenwetter mit PS-Stärke chauffiert!“, ergänzte ich.
Begeisterte
Zurufe, Applausgewitter, Prösterchen und Gesang verbanden Akteure und
Zuschauer. „Wow, was für ein faszinierender Zug!“ ,zeigte sich Lucy
beeindruckt.
„Kirmesvereine
aus den umliegenden Orten reihen sich
gerne mit ihren Ideen bei uns ein, so dass der Zug von Jahr zu Jahr länger und
interessanter wird.“, warf Maren ein.
Manni
bestaunte die prächtigen Pferdekutschen und Reiter: „Die sehen ja wie
Zirkustiere aus. Schaut mal dort, man hat ihnen sogar die Hufe schwarz poliert.
Einfach königlich!“
Vom
Motivwagen meiner Sportfreunde wurde uns sogar noch ein Kirmesbier gereicht. „Genau
das, was ich jetzt brauche!“ ,hörte ich Fabian johlen. „Wahnsinn, was die
Heimensteiner in diesem Jahr wieder auf
die Beine gestellt haben!“
„So
Freunde, nach diesem kulturvollen Auftakt wird es Zeit, dass wir uns den
kulinarischen Genüssen widmen. Gleich um die Ecke im Restaurant und
Hotel „ Zur Traube“ erwartet man uns zum
Mittagessen. Eines der besten Häuser am Platz, mit echt Thüringer Küche
und diversen Leckerbissen. Ich hoffe, mit Rouladen, Thüringer Klößen und
Rotkohl treffe ich eure Geschmäcker. Vorsuppe, Salatvarianten und den Nachtisch
überlasse ich eurer Wahl!“
Mannis
Lippen begannen sich schon zum Kauen zu formen. Tims Augen funkelten, als ich sagte: „Ein kühles
Blondes oder ein guter Schoppen Wein werden uns in Fahrt bringen. Jetzt wird
Kirmes gefeiert, ihr wisst doch, wie das abläuft. Amüsieren ohne Ende!“
„Das
Menü war ein Hochgenuss, einfach köstlich!“, schwärmte Fabian. „Super lecker!“ schnalzte Manni.
Zu
ihrem Tim blickend frohlockte Maren: „
Na dann wollen wir uns heute mal so richtig in das Vergnügen stürzen. Mama blinzelte Manni zu
und unkte: „Vielleicht findest du ja in unserem Städtchen endlich die Frau fürs
Leben. Vom Schaffen alleine kann man nicht glücklich werden. Herz und Seele
brauchen Wärme.“
Nun
schmiegte sich mein Schwesterherz zärtlich an ihren Tim. Beide liebkosten ohne
Scheu ganz verwegen. Schließlich war ja schon
von Hochzeitsplänen die Rede. Lucy und David schienen miteinander zu flirten.
Fabian wusste, dass der gesamte Festumzug noch einmal auf der Homepage des
Kirmesvereins angeschaut werden konnte.
Nach
dem Verdauungsschnäpschen erhob sich Junggeselle andächtig. „ Lieber Ron, wir sind stolz, einen
solchen Chef wie dich zu haben, der sowohl Vorgesetzter als auch Freund ist. Du
hast in diesen letzten fünf Jahren viel aufgebaut, dir wenig Freizeit gegönnt,
warst stets für unsere Belange da. Wir danken und gratulieren alle von Herzen!“
Nach
dieser wohltuenden Rede bekam ich ein Paket nebst Umschlag überreicht. Echt gerührt
öffnete ich mit leicht zittrigen Händen zuerst den Brief, der einen
Hotelgutschein für einen Wellnessaufenthalt im Ostseebad Zingst freigab. „Für
zwei Personen!“, betonte Fabian. Freudige Erregung besetzte mich, auch wenn ich
noch nicht wusste, mit wem ich diesen Spaß teilen könnte.
Plötzlich
erhob sich Lucy und übergab mir den Karton. „Diese Geschenkidee stammt von mir.
Lass mich beim Auspacken helfen!“ Flink wie immer, hatte sie rasch etwas Schüsselförmiges
enthüllt, einen roten Motorradhelm mit schwarzen Blitzen. „Er möge dich auf
jeder Tour schützen! Damit erkenne ich dich schon von weitem, wenn wir mal
aufeinander zurasen sollten!“
Mir verschlug es fast den Atem, als ich dieses
tolle Teil über meinen Kopf stülpte. „Damit würde ich glatt zum Mond starten.“
Im Freudenrausch zog ich unsere Malerlady
an mich und gab ihr einen Kuss. Mama beendete meine Sprachlosigkeit. „Ich packe
mal alles in mein Auto! Macht, dass ihr auf den Klausberg kommt, sonst findet
ihr keinen Platz mehr.“ „Die Hauptsache,
das Bier ist herzhaft und die Frauen sind schön!“, warf Manni ein.
Sichtlich
gerührt bedankte ich mich bei der Belegschaft und bezahlte die Rechnung.
Überall,
in Gassen, Hauseingängen, Straßenecken und auf Vorhöfen saßen Leute in
geselliger Runde. Das herrliche Wetter hatte sie nach draußen gezogen. Es war
fast unglaublich, was dieses kleine Stadtviertel alles aufgeboten hatte.
„Frohsinn,
Jubel, Trubel, Musik und Tanz unter Eierketten, das ist ja fast wie Ostern!“,
stellte Tim fest. Bei uns in Duderstadt wird mit Fahnen und Wimpelketten geschmückt.
Eiergirlanden sind da nicht traditionell!“
„ Ich finde sie einfach lustig und bewundere diese Kunstgeschnüre jedes
Jahr aufs Neue.“ „Gibt es die auch zu kaufen?“ ,wollte Fabian wissen. „Das
Einmalige veräußert man doch nicht!“, gab ich ihm zu verstehen. „Ach wie
schade!“
David
versetzte Lucy einen freundschaftlichen Klaps auf das straffe Hinterteil.
„Wollen wir zwei Hübschen heute ein Tänzchen wagen?“ „ Hast du überhaupt eine
Flirterlaubnis von deiner Frau bekommen?“ ,fragte sie scherzhaft.
Wahrscheinlich
saßen die Einheimischen noch am Kirmesbraten und die Gäste in den Kneipen, denn
auf dem Festplatz waren etliche Sitzgelegenheiten zu haben. „Sucht uns einen Tribünenplatz
aus, Tim und ich holen die Kirmesschoppen. Momentan ist die Theke noch
erreichbar, das müssen wir ausnutzen. Später wird das Getränkeholen zum
Eroberungsakt. Haben die Damen Sonderwünsche?“ Ich wusste, dass Maren ein Glas
Sekt bevorzugte.
„Champagner
auf den Dreißigsten!“, rief meine Schwester überschwänglich! „Genehmigt!“ „Ich
hätte lieber ein kühles Helles!“, schaltete sich Lucy dazwischen.
Im
Nu hatte die Hauser-Crew einen gemütlichen Sitzplatz und die gewünschten
Getränke. Ich gab die Runde frei. „ Prost, auf unser aller Wohl, auf die
Gesundheit, weiterhin problemlose Zusammenarbeit, das zukünftige Brautpaar,
meinen Dreißigsten und natürlich auf die Heimensteiner Kirmes.“
Von
Geselligkeit, Getränken und der
Musikkapelle aufgeheizt, wanderte unser Stimmungspegel rasch nach oben. Wir
redeten, lachten, tanzten und
schunkelten in geselliger Runde.
„Muss
erst mal die niedliche Kapelle umschiffen!“, entschuldigte sich Fabian. Dabei bezog
er seine Bemerkung nicht auf die Musikantenformation, sondern auf das
Toilettenhäuschen auf der Anhöhe.
Im
Thekenbereich herrschte inzwischen Wuhling. Erhitzte Gemüter schrien nach
Abkühlung.
Für
uns war Kaffeetime angesagt, als Mama Maria den leckeren, selbst gebackenen
Kirmeskuchen brachte. „Unser Eichsfelder Schmandkuchen darf auf keiner Feier fehlen!“
„So ein Hochgenuss, einfach unübertroffen köstlich!“ ,lobte Lucy. Die Frauen
bevorzugten einen Kaffee dazu, uns schmeckte der Kirmeskuchen auch mit Bier.
Inzwischen
spielten die Musikanten immer
stimmungsgewaltiger auf, so dass wir aus vollster Kehle mitsangen: „Kirmes,
Kirmes, Kirmes ist heut…!“ „Geburtstag, Geburtstag, Geburtstag ist heut!“,
trällerten wir dazwischen.
Der
angrenzende Brauhausrummelplatz war ebenfalls Spaßmeile und lud zum Flanieren
ein. Einige bekamen plötzlich Lust, die Marktstände anzuschauen und sich ins
Rummelvergnügen zu stürzen. Der eine oder andere ging mal hier und mal dort
hin, traf einen Bekannten und machte ein Plauderpäuschen. Unser Treffpunkt war
immer wieder der Klausberg-Festplatz, wo Molli ununterbrochen ein paar Plätze
frei drückte. „Zum Laufen zu faul, zum Saufen zur Stelle!“
Tim
und Maren zogen zuerst los. Offensichtlich brauchten sie Intimsphäre. Lucy und
David folgten ihnen. Fabian nahm die Eierketten genauer unter die Lupe und ich
machte ein Kirmestänzchen mit Mama, unserer Büroseele.
Gegen
20.00 Uhr waren alle wieder vereint.
Da
zünftig thüringisch gefeiert werden sollte, bewirteten Maren und ich unsere
Gäste am Abend mit regionalen Spezialitäten. Die herzhaften Thüringer Rostbratwürste,
die schon den ganzen Nachmittag auf dem Holzkohlegrill dufteten und brutzelten,
hatten Mannis Geschmacksnerven bereits in Alarmbereitschaft versetzt. Tim
schienen die Rostbrätel den Mund wässrig gemachen zu haben, denn er schickte
seine Sinne zum Grillfleisch. Für Eilige gab es auch eine Bockwurst mit Brot.
So kam jeder auf seine Kosten.
Ich
wusste natürlich, dass da noch etwas fehlte und zauberte aus meiner Aktentaschtasche
einen echten Eichsfelder Feldgieker und
ein leckeres Gaßmann-Brot. Wir fingen die Promilleteufelchen mit diesen
herzhaften Köstlichkeiten ab und läuteten die nächste Vergnügungsrunde mit
Sekt, Bier und Schnaps ein. Viele neidvolle Blicke wanderten an unserem Tisch
vorüber.
Mit
einmal schien überall die Post abzugehen. Auf dem Rummelplatz tummelten sich ebenso
viele Spaßsuchende wie auf dem Kirmesplatz, wo inzwischen eine Band für heiße Tanzrhythmen sorgte.
Um
den Klausberg herum, in Stadtrichtung, wurde es immer lauter. Hier hieß es:
„Einsteigen, mitfahren, auf Abenteuerreise gehen!“ Einfach Showtime!
Vielfältige Karussells, von der Kopfstandschaukel, auch Kotzmühle genannt, über
die Berg- und Tal-Bahn bis zur gemütlichen Feuerwehrautorunde sorgten für
Rummelspaß. Vom Vergnügungsrausch angezogen, mutig geworden, lechzten auch
meine Gäste nach Adrenalinstößen. Energiegeladen mischten wir uns unter die
ohrenbetäubend kreischende, rufende, knutschende und lachende Menge. Die
Heliumballons, kunterbunt, zappelten uns zum Kauf entgegen. Bestens gelaunt
ließ ich mich verlocken und übergab den zwei Damenschönheiten ein Herz- und ein
Schmetterlingsgebilde mit Luft und guten Wünschen gefüllt: „Liebe Maren, möge Tim
dein Herzensbrecher sein!“ Zu Lucy gewandt hörte ich mich sagen: „Lass deine
Träume in den Himmel flattern, vielleicht werden sie vom lieben Gott erfüllt!“
In
diesem Moment spürte ich, wie ihre sanften braunen Augen die meinen suchten, um
diese festzuhalten. Mit ihren 28 Jahren erweckte sie manchmal den Eindruck,
Angst zu haben, dass das Leben an ihr vorbeizog. Im Grunde genommen war sie
eine sehr attraktive Frau. Heute hatte sie sich dem Anlass entsprechend echt
super schick gekleidet, im Gegensatz zu ihrem alltäglichen Maler- oder Bykerlook.
Mir
stockte fast der Atem, als sie das erste Mal zwecks Vorstellungsgespräches
in mein Leben platzte. Ich stand auf dem Hof und rauchte meine
Entspannungszigarette, da raste eine schimmernd schwarze BMW gerade auf mich
zu. Als ich zur Seite sprang, bremste die Maschine. Noch auf dem Motorrad
sitzend, nahm Lucy den schwarzen Helm ab, unter dem ihr langes glänzendes Blond
zum Vorschein kam. Tatsächlich, sie war eine Frau, diese neue Bewerbung. David
hatte sie ins Spiel gebracht. In ihrer ledernen schwarzen Motorradkluft gab sie
die wahre Rocker-Lady ab. Das war vor knapp zwei Jahren. Heute, an diesem
Kirmesmontag, war sie die Dame in Vollendung, trug rote Sandaletten mit Absatz
und ein farbenfrohes Druckkleid, das sich wunderbar an ihren wohlgeformten
Körper anschmiegte. Eine echte Augenweide! Dieser feminine Schick machte sie
anziehend. Abgerundet wurde ihr Outfit durch eine rote, passende Umhängetasche,
die sie unbedingt für Feuerzeug, Zigarettenschachtel und das Kosmetiktäschchen
brauchte. Was Frauen sonst noch so alles darin verstecken, war mir fremd. Aber
ich wusste, dass für das weibliche Geschlecht eine Tasche so wichtig war, wie
für uns Männer das Portmonee.
So
wie unsere Lucy heute zwischen uns thronte, hätte sie, bis auf Tim, jeder von
uns gerne vernascht. Aber diese Frau war keine süße Praline, sondern eine
Respektsperson, ein Kumpeline. Inzwischen
hatte sie sich einen festen Platz im Team erobert, galt aber auch in manchen
Dingen als „Eiserne Lady“.
Die
Einzige, die mit Lucy auf Tuchfühlung stand, war Maren. Dieses enge Verhältnis
hatte sich jedoch gelockert, als Tim ins Spiel kam.
Heute
wich meine Schwester nicht von seiner Seite, weil sie bereit war, ihm das
Ja-Wort zu geben.
Im
Vergleich zu Lucy kleidete sich mein Schwesterherz gerne jugendlich peppig. Mit
ihren 25 Lenzen stand ihr das auch zu. Sie dokumentierte die Unbeschwertheit
des Seins und brachte eine ungezwungene Lebensart zum Ausdruck.
Wir
gondelten durchs Kirmesvergnügen, jeder nach seinem Belieben und scherzten uns
durch die Nacht. Fabian war vorzeitig abgetreten, um eventuell einer Eierkette
auf die Spur zu kommen, Tim und Maren verharrten in der Liebesgondel und Lucy
schien einer Bekannten begegnet zu sein. Vom bunten Lichtflattern geblendet,
versuchte ich gegen zwölf Uhr die Anderen auszumachen. Es wurde langsam kühler
und die Dunkelheit setzte ein. „Lasst uns zum Klausberg aufbrechen, bevor Molli
sich unter den Tisch gesoffen hat!“, warf ich lautstark in die Runde. Unsere
Verliebten zogen eng umschlungen schon mal los. Lucy trat an meine Seite und
schlüpfte fröstelnd in meine Jackett-Jacke. Am Schießstand erblickte ich im Neonflackerlicht
David mit Elefant und Teddybär im Arm. „Bin schon unterwegs, wollte nur noch
für meine Kids den „Goldenen Schuss“
wagen.
„Alles
gut! Wir sind der Abschleppdienst.
Kannst ja morgen wieder kommen! Da ist auch noch Partytime mit großem
Frühschoppen. Aber jetzt ist für 2.00 Uhr die Heimfahrt organisiert.“
Inzwischen
waren alle wieder am Biertisch eingetrudelt,
lediglich Mama hatte sich schon nach
Hause begeben. Molli klebten förmlich an seinem Bierglas, so, als wäre es ein
Goldbarren.
Teilweise
ausgepowert ließen wir uns neben ihm noch einmal nieder. Ich bestellte ich die
letzte Runde und den Taxi-Bus.
„Hallo
Lutz, wir haben ausgefeiert. Du musst jetzt die reinste Eichsfeld-Tour machen: Duderstadt,
Wahlhausen, Bodenrode und Niederorschel. Meine Leute werden dir schon den
Ausstiegsort anweisen!“ „Geht in Ordnung! Warte in dreißig Minuten in der
oberen Wilhelmstraße auf euch!“ „Okay, die Rechnung geht auf mich!“
Gleich
nach dem Telefonat, als fast alle Gläser leer waren, blies ich zum Aufbruch.
„Alles hat ein Ende! Ich hoffe, diese Geburtstags-, Kirmes- und Jubiläumsfeier
wird euch in Erinnerung bleiben! Auf
geht’s! Wir tigern über die Scheuche
direkt zum Taxi und holen uns an der Klauskapelle den letzten Segen. Wer sich
noch einmal erleichtern möchte, kann das auch noch tun.“
Wenig
später schlenderten wir im Grüppchen durch die Nacht, entlang der spärlich
beleuchteten Stadtmauer. Das Rauschen und Plätschern des Wasserfalles wurde nun
zu unserer Begleitmusik. Maren und Tim posierten am Anfang, fast hätte man
glauben können, sie wären miteinander verschmolzen. Es begegneten uns ein paar
Gestalten, die Schutz oder Halt an der Mauerfassade suchten. Fabian und David
taumelten hinterher, Lucy an ihrer Seite. Ich hatte Manni im Schlepptau, mit
dem ich nur beschwerlich vorwärts kam. „Hast wohl doch zu oft geprostet? Komm, wir
müssen die anderen einholen!“
Plötzlich
fing auch Lucy an zu stolpern und klagte über Kotzlaune. „ Bier und Sekt im
Wechsel haben eine Doppelwirkung!“, scherzte ich.
Nun
nahmen sie die Kollegen in die Mitte, was sie ohne Widerstand zu ließ. Sie
hakte sich mit der Bemerkung unter: „Hauptsache ihr geht mir nicht an die
Wäsche!“ „Kipp mir ja nicht aus den
Latschen!“, mahnte David!“
So
zogen wir zur Wilhelmstraße, rechterhand die Stadtmauer, linkerhand Geislede
und Ehrenfriedhof.
Fast
am Ende des Schutzwalls hinter einem Pfeilervorsprung vernahmen wir urplötzlich
einen entsetzlichen ohrenbetäubenden Aufschrei aus Marens Mund.
Worte
und Laute überschlugen sich in panischer Angst. Wie auf Kommando hielten wir
orientierend inne und rannten nach vorne. Augenblicklich erkannten wir im
spärlichen Halbdunkel der Nacht, was meine Schwester so entsetzt hatte. Im
selben Moment drang Marens hilflos klingende Zitterstimme an unsere Ohren: „Da,
dort unten hockt jemand!“
Tim
kniete bereits neben der Person, die von den kalten Sandsteinen festgehalten
wurde. „Den Umrissen und der Kleidung nach ist es eine Frau!“, stellte er fest.
Rasch ergriff er, ungeachtet der Spuren die er hinterließ, die Hand der leicht
zerzausten und zusammengekauerten Gestalt.
Besorgt
wurden meine Gedanken laut:“ „Ruht sich nur mal
aus? Ist vielleicht im
Alkoholrausch, oder hat gesundheitliche Probleme!“
Nun
folgten weitere Vermutungen: „Ist zu hart gefallen!“ „Hat sie jemand
angegriffen?“, während Tim vergebens versuchte, einen Pulsschlag einzufangen.
Auch am Hals konnte er kein Lebenszeichen ertasten.
Wie
durch einen Eisregen ernüchtert, waren wir wieder klar im Kopf und Herr unseres
Verstandes. Jeder schaute den unheilverkündenden Tatsachen entgegen,
erschrocken, mitleidsvoll. Was war hier passiert? War diese Frau noch zu
retten? Befürchtungen stolperten,
kreisten, überschlugen sich und wir gerieten in Panik. Mein Hirn arbeitete in Sekundenschnelle
auf Hochtouren. Wie mechanisch gesteuert aktivierte ich im Sternenschein mein
Handy und setzte an die 110 einen Notruf ab. Gab Standort mit Namen und Situationsschilderung
durch und analysierte den Zustand der aufgefundenen Person.
Ein
Gurgeln und Würgen ließ mich wiederholt aufschrecken. Lucy hing schaukelnd über
einem Busch und spie im hohen Bogen eine säuerlich stinkende Lache aus,
unfähig, verbal zu reagieren. „Typisch zart besaitete Frauenfiguren!“,
resümierte Fabian.
Die
Menschentraube um uns herum wuchs zusehends. Nachfolgende Heimkehrer,
Neugierige, und die Stadtmauergestalten blieben mit gebannten Gesichtern
gestikulierend stehen. Schaudern in der Nacht!
Manni
eilte herbei und rief erschrocken: „Wir müssen versuchen sie wiederzubeleben! Weg da, ich mache das!“
„Zuerst
sollten wir sie in Rückenlage katapultieren! Ganz vorsichtig!“, ordnete Tim an.
Fabian, der erst kürzlich den Führerschein erworben hatte, beugte sich über die
leblose Frau. Beherzt griff er ihr in den Rachenraum, um festzustellen, dass er
frei von Blockaden war. Dann führte er gekonnt die Mund-zu-Mund-Beatmung durch.
Er presste den Brustkorb der mittelgroßen Gestalt unter sich und hauchte ihr
rhythmisch seinen Atem ein. Anstrengungsschweiß hatte sich bereits auf seiner
Stirn abgezeichnet, als er kraftlos aufgab. „Sie kommt nicht!“, flüsterte er,
nur für uns vernehmbar. Unendlich viele Augenpaare blickten Richtung Entsetzen
und Hilflosigkeit.
Im
nächsten Moment ließ die Krankenwagensirene alle aufschrecken und zerriss die
Spaßnacht. Blaulicht flatterte durch das Dunkel, Motoren stoppten, Schritte
rasten hin und her, vor und zurück, Scheinwerfer erhellten den Fundort!
Im
Bewusstsein, das Richtige zu tun, informierte ich Notarzt und Sanitäter über
den Zustand der Frau sowie unsere Rettungsbemühungen. Die Einsatzkräfte der
Polizei sicherten das Terrain ab. Ein Aufschrei ging durch die Schaulustigen,
als die aufgefundene Frau vom Rettungsteam eingesackt wurde. Meine Nase bekam
Streicheleinheiten von einem Windhauch, der Leichengestank verbreitete.
„David,
schau doch bitte mal nach Lucy, vielleicht braucht sie auch unsere Hilfe. Hier
ist jegliche Mühe überflüssig. Ich muss meine Schwester beruhigen, denn Tim scheint
auch aus dem Gleichgewicht gefallen zu sein. Ebenfalls zart besaitet!“
„Bitte
treten Sie unverzüglich zur Seite, das ist ein Fall für die Kriminalpolizei!“,
ertönte eine Kommandostimme. Drei Beamte sperrten den Tatort im Scheinwerferlicht
ab.
Krimi
live! Ein in Plastikanzug gehülltes Wesen beäugte, betastete und inspizierte
den Fundort. Zwei Kripoleute, männlich
und weiblich, rasten in einem BMW zum Schauplatz, wiesen sich per Dokument aus
und eilten zum Tatort. Noch wusste niemand, ob es ein Unglücksfall, ein Suizid
oder ein Gewaltverbrechen vorlag. Eine Leiche, Menschen, Gegenstände, Spuren!
Es wurde markiert, nummeriert und fotografiert für die Ermittlungs- und Beweisaufnahme.
„Ich
bin Hauptkommissar Jannik Götz, meine Mitarbeiterin Ina Richter!“ Jannik war mein Kumpel vom Motorsportclub
EIC. Er beglückwünschte mich rasch, dann wurde er dienstlich. „Diejenigen, die
zuerst am Leichenfundort waren, halten sich bitte zu unserer Verfügung. Wir
benötigen Ihre Personalien betreffs des Ermittlungsverfahrens. Falls es noch
weitere Zeugen gibt, die etwas im Vorfeld beobachtet haben, müssen wir deren
Aussagen ebenfalls zu Protokoll nehmen!“
Gemeinsam
verharrten wir, in den Bann des
Geschehens gezogen, bis uns die Kripoleute mit ihren Fragen bombardierten.
Keine
Blutspur, aber viele Unklarheiten! „Wer hat die Person zuerst entdeckt?“ Maren
und Tim meldeten sich mechanisch. „Haben Sie etwas berührt oder verändert?“ Nun
gab ich wahrheitsgetreu Auskunft und schilderte, was sich hier wie abgespielt
hatte. „Meine Schwester und ihr Freund stießen zuerst auf die leblos zusammengekauerte
Person und wir vernahmen den Hilfeschrei von Maren. Damit war unsere Feierrunde
alarmiert. Als Tim nach einem Lebenszeichen der Frau forschte, eilten wir
herbei und sahen, wie er sie an Puls und Halsschlagader abtastete. Keinem war
so richtig bewusst, dass hier an der Stadtmauer eine Leiche lag. Noch glaubten
wir, einen hilfsbedürftigen Menschen gefunden zu haben. Das war so gegen 2.10
Uhr. Ich erinnere mich exakt, weil ich kurz zuvor das Taxi bestellt hatte. Als
wir die Situation für lebensbedrohlich hielten, setzte ich den Notruf ab. Die
Jungs leisteten augenblicklich Erste Hilfe. Aber ihre
Bemühungen waren erfolglos. Bei
allen diesen Aktivitäten wurden natürlich Spuren hinterlassen. Anschließend wurde der Fall von den diensthabenden
Polizisten übernommen, die zuerst hier eintrafen!“
„Kennt
jemand die Tote?“
Ein
wiederholtes „Nein“ ertönte und
Kopfschütteln wurde signalisiert. „Kommissarin Richter nimmt Ihre Personalien auf. Wir brauchen Sie dann
morgen noch einmal zur Befragung im Revier. Wer nicht verfügbar ist, wird zu
einem späteren Zeitpunkt geladen! Vorerst danke für Ihre Mithilfe!“
Ebenfalls
am Tatort eingetroffen und in den Bann
des Geschehens gezogen, trat Lutz, der den Taxibus fuhr, an mich heran. „Hey,
Ron, das ist ja ein Ding, ein Mord mitten in unserer friedlichen Kleinstadt.
Kaum zu glauben! Es ist doch schon eine Ewigkeit her, dass bei uns getötet
wurde. Ich kann mich nur an das Familiendrama von damals erinnern. Der Mörder
war ein Heiligenstädter. Hoffentlich ist es nicht dieses Mal wieder einer aus
unseren Reihen!“ Er redete in seiner Aufregung so schnell, dass seine Befürchtungen
nur bis zu mir drangen. Zum Glück!
Im
Laufe der nächsten Viertelstunde waren sämtliche Personaldaten erfasst, einige
kamen nur so herausgeschossen, andere wurden mühsam herausgepresst. Die Beamten
notierten das vorerst Wesentliche. Maren Hauser, geboren am 26. August 1992 in
Heiligenstadt, dort wohnhaft Gartenstraße 23. Ron Richter, geboren am 28.05.1987
in Heiligenstadt, wohnt ebenfalls Gartenstraße 23. Tim Gubert, geboren am
09.04.1990 in Kassel, wohnhaft in Duderstadt, Haberstraße 40. Manfred Siebert,
geboren am 10.10.1986 in Bodenrode, wohnt Hauptstraße 18. Lucy Trapp, geborene
Kieljan. Am 18. Februar 1989 in Hamburg geboren. Wohnhaft in Niederorschel,
Hauptstraße 93. Fabian Fischer, am 09.05.1999 in Wahlhausen geboren, wohnt Kreisstraße
31. David Richter, am 18.10.1979 geboren, wohnhaft in Niederorschel, Rasenweg
23, verheiratet, zwei Kinder.
„Sie
können erst einmal gehen, wir kommen auf Sie zurück!“, entließ uns die
Kommissarin.
Taxi-Lutz
zeigte sich langsam ungeduldig. „Mensch Ron, wann kann ich endlich starten?
Habe noch mehr Nachtfahrten.“ „Wir haben fertig, ihr könnt sofort auf Eichsfeldtour
gehen!“
Vom
mysteriösen Ausgang der Superveranstaltung geschockt, verharrten meine
Schwester und ich noch vor der Absperrung. Unser friedliches Stadtbild wurde
plötzlich ganz dunkel. Lebten wir mit einem Mörder Seite an Seite? Auch Maren
zeigte sich noch benommen. Auf den Straßen hatte sie schon Unfalltote gesehen,
aber noch nie ein vermeintliches Mordopfer. Selbst Tim war die Kuschellust
vergangen und er stieg, sichtlich berührt, in das Taxi mit ein.
Rasch
verwarfen wir weitere furchterregende Gedanken und lauschten ganz unerwartet
einer Polizeistimme, die an ein
Diktaphon gerichtet war. „Leichenfund in Heiligenstadt! Kurz nach Mitternacht,
so gegen 2.10 Uhr, Angestellte der „ Hauser-Farb-und Fassadenprofis“, mit Sitz
in Heiligenstadt, fanden eine leblose Person im Pfeilerwinkel der Stadtmauer an
der Scheuche. Die Frau war nicht
ansprechbar! Erste Hilfemaßnahmen blieben erfolglos! Gegen 2.15 Uhr ging der Notruf ein. Wenige
Minuten später waren die Einsatzkräfte vor Ort. Da der Mediziner nur noch den
Tod der Person und massive Würgemale am Hals diagnostizierten konnte, übernahm
die Kripo den Fall. Die Leiche, noch unbekannt, wurde von den Beamten auf dem
Boden liegend vorgefunden. Gesichtszüge leicht verzerrt, so als hätten sich die
Muskeln verkrampft. Der auffallend rote Lippenstift war total verschmiert, die
Augen blickten starr ins Leere. Person, modern gekleidet mit einem roten
Ballonkleid und schwarzen Leggins, die einige Rissstellen aufwiesen. Die Passform
des Kleides wirkte verdreht. Ein Pumps, Farbe schwarz, lag neben der Leiche im
Gras, der andere Schuh steckte am Fuß. Körper ist von mittelgroßer und schlanker
Gestalt. Laut Gerichtsmedizin liegt der
Todeszeitpunkt zwischen 23.00 und 1.00 Uhr. Alter wird auf etwa Mitte Zwanzig
geschätzt. Einblutungen in den Augen und Würgemale am Hals, die unter einem Seidentuch
zum Vorschein kamen, deuten auf eine nicht natürliche Todesursache hin. Die
Leichenschau wurde angewiesen. Am angenommenen Fund- und Tatort konnten keinerlei Gegenstände sichergestellt werden.
Bisher keine Identitätshinweise!
Behördenbenachrichtigung ist unverzüglich erfolgt!“
Der
laue Frühlingstag war bereits in eine sternklare Nacht übergegangen, als Maren
und ich den Heimweg antraten. Somit lasteten auf meinem 30. Geburtstag
Todesspuren. Wortlos, uns gegenseitig festhaltend, erreichten wir das
Elternhaus. Als ich mein Schwesterherz gebettet hatte, rang ich nach der
eigenen Besinnung. Zu unser aller Entsetzen wurde uns noch eine Kirmesleiche
aufgetischt. Was war das nur für eine schreckliche Nacht! Momentan fühlte ich
mich weder kaiserlich noch königlich. Mein
Gefühlskarussell drehte sich ohne Fahrschein im Achterbahntakt. Ich schleppte
mich ins Bad, im Begriff, das scheußliche Erlebnis abzuspülen. Zuvor drückte
ich mir noch einen starken Maschinenkaffee, um meine Lebensgeister wieder zu
wecken. Mit zittrigen Händen stellte ich den duftenden Kaffeepott auf den
Waschbeckenrand in der Absicht, meine Gedanken zu sammeln. Kaum machbar! Das
Spiegelbild erschreckte mich, weil es von einem verwirrten Ich gezeichnet war.
Tief seufzend bespritzte ich den Spiegel mit tänzelnden Seifenschaumflocken,
die ich am liebsten drangelassen hätte, um das, was passiert war, zu
verwischen. Nichts lässt sich ungeschehen machen, ein Tötungsdelikt schon gar
nicht. Beim Einstieg in die Duschwanne stolperte ich über den Vorlegerzipfel
und machte eine leichte Bauchlandung auf dem Badeteppich. Erschrocken richtete
ich mich wieder auf und mir wurde bewusst, dass unser Leben tagtäglich ein Ende
finden kann. Von dieser Vorstellung besetzt, verzichtete mein Körper auf die
Generalreinigung. Meine Hände griffen noch ein Bierchen und ich säuselte mich
in den Schlaf, leider nur kurzzeitig. Die wenigen Stunden bis zum Sonnenaufgang
wurden zur Qual. Ständig veränderte ich meine Lage im Bett, so als würde ich
über glühenden Kohlen schweben, zog die Hand unter dem Kopf hervor und fuhr mir
durch die kurzen dunkelbraunen Haare. Dann strich ich mir über die Augen und
seufzte tief. Erschöpft dämmerte ich irgendwann ein.
Als
mich der Dienstagmorgen begrüßte, war es bereits 10.00 Uhr. Nach dem Blick auf
den Radiowecker fuhr ich aus den Kissen hoch, völlig aufgewühlt und wie
zerschmettert. Zu meiner Erlösung war heute noch arbeitsfrei. Wir hatten uns
erlaubt, kleine Pfingstferien einzulegen. Ich schleppte meinen total
übermüdeten Körper zum Badezimmer und schaltete mit der einen freien Hand,
während ich pinkelte, das Radio wie gewohnt ein. Ein Sprecher von Landeswelle
Thüringen verkündete gerade die neuesten Nachrichten. Das Weltgeschehen
rauschte an mir vorbei. Aber nun wurde ich hellwach. „Laut Meldung der
Polizeiinspektion Heiligenstadt nahm die gestrige Kirmesveranstaltung der
Heimensteiner ein tödliches Ende. Wenige Stunden nach Mitternacht, gegen 2.10
Uhr, entdeckte eine Kirmestruppe an der Stadtmauer Scheuche in Festplatznähe
den leblosen Körper einer noch nicht identifizierten Frau. Die Spurensicherung
konnte ihre Untersuchungen erst in den hellen Morgenstunden beenden. Rings um
den Fundort wurden viele Tretspuren gesichert, große, kleine, deutliche und
unbrauchbare. In helfender Absicht hinterließen die Personen, die die Leiche
entdeckt hatten, auch ihre Fußabdrücke. Spuren, die an vielen Plätzen der
Innenstadt tausendfach auffindbar waren. Der gerichtsmedizinische Befund steht
ebenfalls noch aus. Alle Ermittlungen laufen auf Hochtouren und in sämtliche
Richtungen, da von einem Tötungsverbrechen ausgegangen werden muss. In unserem
Internetportal finden Sie Foto und Personenbeschreibung der noch Unbekannten.
Vermisst jemand seit gestern eine weibliche Person? Hat irgendeiner in der
letzten Nacht verdächtige Bekanntschaften oder Beobachtungen gemacht? Es stehen
noch viele Fragen zur Klärung dieses Falles offen. Die Kriminalpolizei
Heiligenstadt bittet um Ihre Mithilfe. Melden Sie sich bitte umgehend bei der
Polizeiinspektion Eichsfeld unter der Nummer 651-0, wenn Sie Hinweise zu diesem
Fall geben können. Im Laufe des heutigen Nachmittages werden wir den
Fahndungssteckbrief in verschiedenen Stadtvierteln aushängen. Seien Sie
wachsam. Unser Thüringen, das grüne Herz Deutschlands, darf nicht zum blutigen
Herz werden!“
Beim
Anziehen hatte ich Mühe, die Beine in die Hose zu bekommen. Aus dem Radio
vernahm ich nur noch hektische Musikfetzen. Mit einer bösen Vorahnung lief mein
Kopfkino ab, das ich in Worte fasste: „Wir, angetrunken, stimmungsgeladen und
nichts ahnend, hatten eine Kirmesleiche gefunden. Die Kripo geht von einem
Mordfall aus und ermittelt. Sucht nach Fußspuren, untersucht, ob der Täter
irgendetwas zurückgelassen hat, forscht nach Stoffresten, die vielleicht im
Gebüsch hängen geblieben sind. Schon geraten wir ins Ermittlungsspektrum, weil
unsere Spuren mit Sicherheit vorhanden sind. Da rollt eine Untersuchungslawine
auf uns zu. Fragen, wie: Wer ist diese Frau? Was verrät ihr familiäres Umfeld?
Warum war sie ohne Handtasche unterwegs, das ist doch nicht frauentypisch?
Kannte sie ihren Mörder? Hat der Täter vorsätzlich gemordet? Ist der Fundort
auch der Platz, an dem die Frau zu Tode kam? War es ein Raubmord? Mein Gott,
wie viele Fragen warf doch so ein Tötungsdelikt
auf!“
Mama
hatte wie üblich den Kaffeetisch für ihre großen Kinder reichlich gedeckt. Sie
war froh, dass wir noch bei ihr wohnten und Papas Lebenswerk fortsetzten. Als
Witwe bemutterte sie uns fast so wie im Kleinkindalter. Kaum stand ich in der
Küche, hatte sich ihr Gesicht mit Tränen überflutet. Sie war eine kluge, gut
aussehende und liebevolle Frau, die für Jeden Mitgefühl aufbrachte. „Junge,
hast du schon gehört, was heute Nacht Entsetzliches in der Nähe von Klausberg
und Marienkirche, unweit des Kirmestreibens passiert ist? Unvorstellbar,
furchtbar! Ein Mord in unsere Stadt.“ „Ja, Mama und wir waren dabei, als Zeugen
sozusagen, weil Maren und Tim die Frau zuerst entdeckten“ „Das klingt ja
aufregend. War sie schon tot, als ihr kamt?“ „Ja, Mama!“ „Hat man den Mörder
auch?“ „Nein, Mama! Ich gehe Maren wecken. Wir sind nämlich für 11.00 Uhr ins
Polizeirevier bestellt!“
„Es
wird doch wohl keiner von euch etwas mit der Toten zu tun haben?“ „Nein, Mama!“
Beim
Wegtreten atmete ich wieder einmal tief durch. Unsere Mutter wollte immer alles
ganz genau wissen.
Maren
wuselte schon im Bad rum. „Wir warten mit dem Frühstück, beeile dich, müssen
Tempo machen!“
Wortlos
saßen wir am Kaffeetisch, als Mama die Ermittlungen wieder aufnahm. „Armes
Kind, den Schrecken der Nacht sieht man dir noch an. Hoffentlich hat der
entsetzliche Anblick dieser Frau keinen Abdruck auf deiner sonst so fröhlichen
Seele hinterlassen! Jetzt haben meine Kinder auch noch mit der Polizei zu tun,
sogar mit der Kriminalpolizei, einfach peinlich!“
„
Unmöglich, dass einer von uns in Verdacht gerät, wir waren doch fast den ganzen
Tag und die halbe Nacht zusammen. Jeder kann jedem ein Alibi geben. Wir haben
nichts zu befürchten, sind alle schuldlos, waren nur zur falschen Zeit am Ort des
Verbrechens.“, beruhigte ich die aufgewühlten Gemüter.
Nun
zückte Maren ihr Handy und sagte beim Rausgehen: „ Muss noch rasch mit Tim telefonieren!“
Ich
beruhigte Mama: „Wir werden nichts als
die reine Wahrheit sagen. Ein reines Gewissen ist eben ein sanftes
Ruhekissen!“