Mittwoch, 16. Mai 2018

Mein erster Eichsfeldkrimi



                           Kirmesleichen

                                                                          von Irmhild Ehrenberg

           Inhaltsverzeichnis

1. Kirmesrausch und Leichenfund

2. Ermittlungen enden im Nichts

3. Lucyiträume

4. Mühlhäuser Kirmes und Worbisevent im Leichenchenschatten

5. Ein Abschied für immer

6. Ominöse Enthüllungen

              Kirmesleichen

1.KIRMESRAUSCH UND LEICHENFUND
Ein Event sollte dieser Pfingstmontag werden, aber er zog eine Blutspur durch mein Herz und katapultierte mich an den Abgrund des Daseins. 
Fast sommerliche Temperaturen verliehen dem Tag einen wahren Glanz. Als am zeitigen Morgen die ersten Sonnenstrahlen meine Nasenspitze kitzelten, spürte ich die Leichtigkeit des Lebens. Kaiserwetter, Kirmeswetter, Jubiläums-und Geburtstagswetter. Das war heute mein Tag, denn genau vor dreißig Jahren hatte ich den ersten Lebensschrei von mir gegeben. Außerdem konnten meine Partner und ich auf unser fünfjähriges Firmenjubiläum zurückblicken. Ich fühlte mich einfach königlich in meiner Haut, der Familie, der Berufswelt, dem Freundeskreis und in meiner Heimat Thüringen, dem Grünen Herz Deutschlands, wo die herbe Schönheit der Landschaft mit kirchengekrönten Städten und fachwerkgeschmückten Taldörfern von Handwerkskunst und Tradition zeugen. Unser besonderer Menschschlag wird als heimatliebend, schaffensfreudig, grundehrlich, hilfsbereit, gastfreundlich und gottgefällig charakterisiert.
Davon wollte ich heute meine Gäste überzeugen. Mal so richtig auftischen und  auf die Pauke hauen, ebenso wie die Umzugsmusikanten der Heimensteiner Kirmes.
„Wir haben in Heiligenstadt mehrere Kirmesvereine. Den Auftakt der Festivitäten macht die Kirmesgemeinde St. Ägidien. Ende April gibt es da schon die ersten Ständchenumzüge durch die Innenstadt und Kirchweihgottesdienste. Aber das Eierkettenfest auf dem Klausberg ist in jedem Jahr eine Veranstaltung der Extraklasse. Traditionsgemäß am zweiten Pfingsttag feiern die Heiligenstädter in der Klausbergkirche die Heilige Messe in Verbindung mit einem großen Volksfest. Das bestens vorbereitet und organisiert wird von den Bewohnern des Straßenzuges.
Der Heimenstein ist die älteste Ansiedlung der Stadt, die bereits seit 1363 einen Kirmesburschenverein hat. Zu Pfingsten wird  das Wohngebiet  um den Klausberg zur Festmeile. Da beginnt das Kirmesvergnügen bereits am Sonnabend mit der Vorfeier. In den vergangenen Jahren sorgten die Moderatoren der Landeswelle Thüringen bis Mitternacht für Spaß, Stimmung und Unterhaltung.
Am nächsten Tag werden die Feierlichkeiten mit Gottesdienst, Frühschoppen und Kirmeswalzer fortgesetzt. Die Highlights kann man aber am Pfingstmontag erleben. Bereits in den frühen Morgenstunden beginnen die Bewohner ihren Straßenzug einmalig zu schmücken, in dem kunstvoll aufgefädelte Eierketten mit viel Liebe und Sorgfalt von Haus zu Haus gespannt werden. Man möchte verhindern, dass Wetterkapriolen oder zerstörerische Hände im Vorfeld Unheil anrichten. Danach versammelt sich die Kirmesgesellschaft zur Prozession, die von der Sant Marie Kirche zur Klausbergkapelle führt.
Zu einem wahren Besuchermagneten ist der große Festumzug geworden, der in der Mittagszeit bestaunt werden kann.
Wer tüchtig arbeitet, kann auch tüchtig feiern, pflegte mein Vater zu sagen.  Wir Eichsfelder sind Lustnaturen. Ob Schlachtekohl, Polterabend, Hochzeit, Geburtstag, Kindtaufe, Vereinsvergnügen oder Kirchweihfest, alles wird zünftig gefeiert. Besonders beliebt bei Alt und Jung sind in den Dörfern und Städten die Kirmesvergnügen.
Es hätte also kein besseres Panorama für mein Feiervorhaben geben können.
Ganz Heiligenstadt war auf den Beinen und erwartete ein Publikum aus nah und fern, das von Jahr zu Jahr anwuchs. Diesmal gehörte die Belegschaft der „ Hauser- Farb- und Fassadenprofis“ auch dazu. Um 11:00 Uhr, nach dem Kirchgang, trafen  meine Gäste ein. Tim fuhr pünktlich mit dem Firmenkleinbus in der Gartenstraße vor, wo unser Haus nebst Werkstatt im Terrakotta-Farbton unübersehbar leuchtet. Lucy, Fabian, Manni und David, unsere Angestellten, stürmten  erwartungsfroh auf mich zu. Kaum angekommen, servierten Mama und Maren den Begrüßungssekt und luden zum Häppchenfrühstück in den Garten ein. Ich hieß jeden Einzelnen herzlich willkommen. Dann nahm ich stolz die Gratulationen entgegen. „Danke, danke, ich bin einfach überwältigt! Aber nun lasst uns feiern. Die Menschenmassen ziehen bereits Richtung Lindenallee. Wir wollen doch den einmaligen Festumzug nicht verpassen!“
Es war schon mächtig was los in der Innenstadt: Straßen gesperrt, Sicherheitskräfte postiert! Männer in weißen Hemden mit Glücksgesichtern, die Zigarette im Mundwinkel, eine Büchse Bier in der einen Hand und ein hübsches Mädchen an der anderen, so zogen sie an uns vorüber. Familien mit Kindern, groß, klein, die Buggys luftballonbeflaggt, schlängelten sich durch die Menschenmassen.
Sicher wollten sie mit ihren Kleinen noch zum Eisstand, ehe das große Spektakel seinen Lauf nahm. „Hier Softeis, cremig, fruchtig, sahnig frisch. Schoko, Erdbeere, Vanille, Haselnuss und vieles mehr!“ Das klang lecker. Da konnte Manni, das Süßmaul, nicht widerstehen. „Zwei Sekunden nur! Bitte wartet!“
Neugierige Zuschauer und bunt geschmückte Gruppen, die sich bereits neben stolzen Reitern versammelt hatten reihten sich ein. Fahnen wurden geschwenkt, Plakate entrollt, Instrumente gestimmt und Pferdegetrampel drang an unsere Ohren.  Es dauerte etwa fünfzehn Minuten, bis sich alle  Aktiven zu einem gut organisierten Festumzug formierten. Dieser kam vom Klausberg aus ins Rollen. Wir hatten uns einen Platz in der Lindenallee, erste Reihe, direkt vor dem Eingangsportal der Lorenz-Kellner-Schulen sichern können. „Hier wird euch nichts entgehen! Die drei Herolde, hoch zu Ross, führen traditionell den Umzug an!“
Als die Klänge der ersten Musikkapelle zu uns vor drangen, explodierte das Kirmesereignis. Die kunst- und liebevoll gestalteten Motivwagen, die mit Humor und Kritik brisante Stadtthemen und Allerweltsnachrichten aufgespießt hatten, wurden mit viel Applaus und Hallo begrüßt. Trachtengruppen, Ranger, Schul-, Sport- Reit- und Heimatvereine zogen teilweise in ihrer mittelalterlichen oder traditionellen Kleidung viele bewundernde Blicke auf sich. Ebenso umjubelt wurde die prächtig geschmückte Kirmeskutsche mit Propst, Landrat und Bürgermeister.
Im ersten Block marschierten auch die mit Schärpen gezierten Kirmesburschen nebst  ihren in Ballkleider gehüllten Mädels. Stolz und würdevoll zogen sie an uns vorüber.  „Heutzutage werden die Kirmesmajestäten und Ehrengäste bei Regenwetter mit PS-Stärke chauffiert!“, ergänzte ich.
Begeisterte Zurufe, Applausgewitter, Prösterchen und Gesang verbanden Akteure und Zuschauer. „Wow, was für ein faszinierender Zug!“ ,zeigte sich Lucy beeindruckt.
„Kirmesvereine  aus den umliegenden Orten reihen sich gerne mit ihren Ideen bei uns ein, so dass der Zug von Jahr zu Jahr länger und interessanter wird.“, warf Maren ein.  
Manni bestaunte die prächtigen Pferdekutschen und Reiter: „Die sehen ja wie Zirkustiere aus. Schaut mal dort, man hat ihnen sogar die Hufe schwarz poliert. Einfach königlich!“
Vom Motivwagen meiner Sportfreunde wurde uns sogar noch ein Kirmesbier gereicht. „Genau das, was ich jetzt brauche!“ ,hörte ich Fabian johlen. „Wahnsinn, was die Heimensteiner  in diesem Jahr wieder auf die Beine gestellt haben!“
„So Freunde, nach diesem kulturvollen Auftakt wird es Zeit, dass wir uns den kulinarischen Genüssen widmen. Gleich um die Ecke im Restaurant und Hotel „ Zur Traube“ erwartet man uns zum  Mittagessen. Eines der besten Häuser am Platz, mit echt Thüringer Küche und diversen Leckerbissen. Ich hoffe, mit Rouladen, Thüringer Klößen und Rotkohl treffe ich eure Geschmäcker. Vorsuppe, Salatvarianten und den Nachtisch überlasse ich eurer Wahl!“
Mannis Lippen begannen sich schon zum Kauen zu formen. Tims  Augen funkelten, als ich sagte: „Ein kühles Blondes oder ein guter Schoppen Wein werden uns in Fahrt bringen. Jetzt wird Kirmes gefeiert, ihr wisst doch, wie das abläuft. Amüsieren ohne Ende!“
„Das Menü war ein Hochgenuss, einfach köstlich!“, schwärmte Fabian. „Super lecker!“  schnalzte Manni.
Zu ihrem Tim  blickend frohlockte Maren: „ Na dann wollen wir uns heute mal so richtig in das  Vergnügen stürzen. Mama blinzelte Manni zu und unkte: „Vielleicht findest du ja in unserem Städtchen endlich die Frau fürs Leben. Vom Schaffen alleine kann man nicht glücklich werden. Herz und Seele brauchen Wärme.“
Nun schmiegte sich mein Schwesterherz zärtlich an ihren Tim. Beide liebkosten ohne Scheu ganz verwegen. Schließlich war ja schon  von Hochzeitsplänen die Rede. Lucy und David schienen miteinander zu flirten. Fabian wusste, dass der gesamte Festumzug noch einmal auf der Homepage des Kirmesvereins angeschaut werden konnte.
Nach dem Verdauungsschnäpschen erhob sich Junggeselle  andächtig. „ Lieber Ron, wir sind stolz, einen solchen Chef wie dich zu haben, der sowohl Vorgesetzter als auch Freund ist. Du hast in diesen letzten fünf Jahren viel aufgebaut, dir wenig Freizeit gegönnt, warst stets für unsere Belange da. Wir danken und gratulieren alle von Herzen!“
Nach dieser wohltuenden Rede bekam ich ein Paket nebst Umschlag überreicht. Echt gerührt öffnete ich mit leicht zittrigen Händen zuerst den Brief, der einen Hotelgutschein für einen Wellnessaufenthalt im Ostseebad Zingst freigab. „Für zwei Personen!“, betonte Fabian. Freudige Erregung besetzte mich, auch wenn ich noch nicht wusste, mit wem ich diesen Spaß teilen könnte.
Plötzlich erhob sich Lucy und übergab mir den Karton. „Diese Geschenkidee stammt von mir. Lass mich beim Auspacken helfen!“ Flink wie immer, hatte sie rasch etwas Schüsselförmiges enthüllt, einen roten Motorradhelm mit schwarzen Blitzen. „Er möge dich auf jeder Tour schützen! Damit erkenne ich dich schon von weitem, wenn wir mal aufeinander zurasen sollten!“
Mir  verschlug es fast den Atem, als ich dieses tolle Teil über meinen Kopf stülpte. „Damit würde ich glatt zum Mond starten.“ Im Freudenrausch  zog ich unsere Malerlady an mich und gab ihr einen Kuss. Mama beendete meine Sprachlosigkeit. „Ich packe mal alles in mein Auto! Macht, dass ihr auf den Klausberg kommt, sonst findet ihr keinen Platz mehr.“  „Die Hauptsache, das Bier ist herzhaft und die Frauen sind schön!“, warf Manni ein.
Sichtlich gerührt bedankte ich mich bei der Belegschaft und bezahlte die Rechnung.
Überall, in Gassen, Hauseingängen, Straßenecken und auf Vorhöfen saßen Leute in geselliger Runde. Das herrliche Wetter hatte sie nach draußen gezogen. Es war fast unglaublich, was dieses kleine Stadtviertel alles aufgeboten hatte.
„Frohsinn, Jubel, Trubel, Musik und Tanz unter Eierketten, das ist ja fast wie Ostern!“, stellte Tim fest. Bei uns in Duderstadt wird mit Fahnen und Wimpelketten geschmückt. Eiergirlanden sind da nicht traditionell!“  „ Ich finde sie einfach lustig und bewundere diese Kunstgeschnüre jedes Jahr aufs Neue.“ „Gibt es die auch zu kaufen?“ ,wollte Fabian wissen. „Das Einmalige veräußert man doch nicht!“, gab ich ihm zu verstehen. „Ach wie schade!“
David versetzte Lucy einen freundschaftlichen Klaps auf das straffe Hinterteil. „Wollen wir zwei Hübschen heute ein Tänzchen wagen?“ „ Hast du überhaupt eine Flirterlaubnis von deiner Frau bekommen?“ ,fragte sie scherzhaft.
Wahrscheinlich saßen die Einheimischen noch am Kirmesbraten und die Gäste in den Kneipen, denn auf dem Festplatz waren etliche Sitzgelegenheiten zu haben. „Sucht uns einen Tribünenplatz aus, Tim und ich holen die Kirmesschoppen. Momentan ist die Theke noch erreichbar, das müssen wir ausnutzen. Später wird das Getränkeholen zum Eroberungsakt. Haben die Damen Sonderwünsche?“ Ich wusste, dass Maren ein Glas Sekt bevorzugte.
„Champagner auf den Dreißigsten!“, rief meine Schwester überschwänglich! „Genehmigt!“ „Ich hätte lieber ein kühles Helles!“, schaltete sich Lucy dazwischen.
Im Nu hatte die Hauser-Crew einen gemütlichen Sitzplatz und die gewünschten Getränke. Ich gab die Runde frei. „ Prost, auf unser aller Wohl, auf die Gesundheit, weiterhin problemlose Zusammenarbeit, das zukünftige Brautpaar, meinen Dreißigsten und natürlich auf die Heimensteiner Kirmes.“ 
Von Geselligkeit, Getränken und  der Musikkapelle aufgeheizt, wanderte unser Stimmungspegel rasch nach oben. Wir redeten, lachten, tanzten und  schunkelten in geselliger Runde.
„Muss erst mal die niedliche Kapelle umschiffen!“, entschuldigte sich Fabian. Dabei bezog er seine Bemerkung nicht auf die Musikantenformation, sondern auf das Toilettenhäuschen  auf der Anhöhe.  
Im Thekenbereich herrschte inzwischen Wuhling. Erhitzte Gemüter schrien nach Abkühlung.
Für uns war Kaffeetime angesagt, als Mama Maria den leckeren, selbst gebackenen Kirmeskuchen brachte. „Unser Eichsfelder Schmandkuchen darf auf keiner Feier fehlen!“ „So ein Hochgenuss, einfach unübertroffen köstlich!“ ,lobte Lucy. Die Frauen bevorzugten einen Kaffee dazu, uns schmeckte der Kirmeskuchen auch mit Bier.
Inzwischen spielten die Musikanten  immer stimmungsgewaltiger auf, so dass wir aus vollster Kehle mitsangen: „Kirmes, Kirmes, Kirmes ist heut…!“ „Geburtstag, Geburtstag, Geburtstag ist heut!“, trällerten wir dazwischen.
Der angrenzende Brauhausrummelplatz war ebenfalls Spaßmeile und lud zum Flanieren ein. Einige bekamen plötzlich Lust, die Marktstände anzuschauen und sich ins Rummelvergnügen zu stürzen. Der eine oder andere ging mal hier und mal dort hin, traf einen Bekannten und machte ein Plauderpäuschen. Unser Treffpunkt war immer wieder der Klausberg-Festplatz, wo Molli ununterbrochen ein paar Plätze frei drückte. „Zum Laufen zu faul, zum Saufen zur Stelle!“
Tim und Maren zogen zuerst los. Offensichtlich brauchten sie Intimsphäre. Lucy und David folgten ihnen. Fabian nahm die Eierketten genauer unter die Lupe und ich machte ein Kirmestänzchen mit Mama, unserer Büroseele.
Gegen 20.00 Uhr waren alle wieder vereint.
Da zünftig thüringisch gefeiert werden sollte, bewirteten Maren und ich unsere Gäste am Abend mit regionalen Spezialitäten. Die herzhaften Thüringer Rostbratwürste, die schon den ganzen Nachmittag auf dem Holzkohlegrill dufteten und brutzelten, hatten Mannis Geschmacksnerven bereits in Alarmbereitschaft versetzt. Tim schienen die Rostbrätel den Mund wässrig gemachen zu haben, denn er schickte seine Sinne zum Grillfleisch. Für Eilige gab es auch eine Bockwurst mit Brot. So kam jeder auf seine Kosten.
Ich wusste natürlich, dass da noch etwas fehlte und zauberte aus meiner Aktentaschtasche einen echten Eichsfelder Feldgieker  und ein leckeres Gaßmann-Brot. Wir fingen die Promilleteufelchen mit diesen herzhaften Köstlichkeiten ab und läuteten die nächste Vergnügungsrunde mit Sekt, Bier und Schnaps ein. Viele neidvolle Blicke wanderten an unserem Tisch vorüber.
Mit einmal schien überall die Post abzugehen.  Auf dem Rummelplatz tummelten sich ebenso viele Spaßsuchende wie auf dem Kirmesplatz, wo inzwischen eine Band  für heiße Tanzrhythmen sorgte.
Um den Klausberg herum, in Stadtrichtung, wurde es immer lauter. Hier hieß es: „Einsteigen, mitfahren, auf Abenteuerreise gehen!“ Einfach Showtime! Vielfältige Karussells, von der Kopfstandschaukel, auch Kotzmühle genannt, über die Berg- und Tal-Bahn bis zur gemütlichen Feuerwehrautorunde sorgten für Rummelspaß. Vom Vergnügungsrausch angezogen, mutig geworden, lechzten auch meine Gäste nach Adrenalinstößen. Energiegeladen mischten wir uns unter die ohrenbetäubend kreischende, rufende, knutschende und lachende Menge. Die Heliumballons, kunterbunt, zappelten uns zum Kauf entgegen. Bestens gelaunt ließ ich mich verlocken und übergab den zwei Damenschönheiten ein Herz- und ein Schmetterlingsgebilde mit Luft und guten Wünschen gefüllt: „Liebe Maren, möge Tim dein Herzensbrecher sein!“ Zu Lucy gewandt hörte ich mich sagen: „Lass deine Träume in den Himmel flattern, vielleicht werden sie vom lieben Gott erfüllt!“
In diesem Moment spürte ich, wie ihre sanften braunen Augen die meinen suchten, um diese festzuhalten. Mit ihren 28 Jahren erweckte sie manchmal den Eindruck, Angst zu haben, dass das Leben an ihr vorbeizog. Im Grunde genommen war sie eine sehr attraktive Frau. Heute hatte sie sich dem Anlass entsprechend echt super schick gekleidet, im Gegensatz zu ihrem alltäglichen Maler- oder Bykerlook.
Mir stockte fast der Atem, als sie das erste Mal  zwecks  Vorstellungsgespräches in mein Leben platzte. Ich stand auf dem Hof und rauchte meine Entspannungszigarette, da raste eine schimmernd schwarze BMW gerade auf mich zu. Als ich zur Seite sprang, bremste die Maschine. Noch auf dem Motorrad sitzend, nahm Lucy den schwarzen Helm ab, unter dem ihr langes glänzendes Blond zum Vorschein kam. Tatsächlich, sie war eine Frau, diese neue Bewerbung. David hatte sie ins Spiel gebracht. In ihrer ledernen schwarzen Motorradkluft gab sie die wahre Rocker-Lady ab. Das war vor knapp zwei Jahren. Heute, an diesem Kirmesmontag, war sie die Dame in Vollendung, trug rote Sandaletten mit Absatz und ein farbenfrohes Druckkleid, das sich wunderbar an ihren wohlgeformten Körper anschmiegte. Eine echte Augenweide! Dieser feminine Schick machte sie anziehend. Abgerundet wurde ihr Outfit durch eine rote, passende Umhängetasche, die sie unbedingt für Feuerzeug, Zigarettenschachtel und das Kosmetiktäschchen brauchte. Was Frauen sonst noch so alles darin verstecken, war mir fremd. Aber ich wusste, dass für das weibliche Geschlecht eine Tasche so wichtig war, wie für uns Männer das Portmonee.
So wie unsere Lucy heute zwischen uns thronte, hätte sie, bis auf Tim, jeder von uns gerne vernascht. Aber diese Frau war keine süße Praline, sondern eine Respektsperson, ein Kumpeline.  Inzwischen hatte sie sich einen festen Platz im Team erobert, galt aber auch in manchen Dingen als „Eiserne Lady“.
Die Einzige, die mit Lucy auf Tuchfühlung stand, war Maren. Dieses enge Verhältnis hatte sich jedoch gelockert, als Tim ins Spiel kam.
Heute wich meine Schwester nicht von seiner Seite, weil sie bereit war, ihm das Ja-Wort zu geben.
Im Vergleich zu Lucy kleidete sich mein Schwesterherz gerne jugendlich peppig. Mit ihren 25 Lenzen stand ihr das auch zu. Sie dokumentierte die Unbeschwertheit des Seins und brachte eine ungezwungene Lebensart zum Ausdruck.
Wir gondelten durchs Kirmesvergnügen, jeder nach seinem Belieben und scherzten uns durch die Nacht. Fabian war vorzeitig abgetreten, um eventuell einer Eierkette auf die Spur zu kommen, Tim und Maren verharrten in der Liebesgondel und Lucy schien einer Bekannten begegnet zu sein. Vom bunten Lichtflattern geblendet, versuchte ich gegen zwölf Uhr die Anderen auszumachen. Es wurde langsam kühler und die Dunkelheit setzte ein. „Lasst uns zum Klausberg aufbrechen, bevor Molli sich unter den Tisch gesoffen hat!“, warf ich lautstark in die Runde. Unsere Verliebten zogen eng umschlungen schon mal los. Lucy trat an meine Seite und schlüpfte fröstelnd in meine Jackett-Jacke. Am Schießstand erblickte ich im Neonflackerlicht David mit Elefant und Teddybär im Arm. „Bin schon unterwegs, wollte nur noch für meine Kids  den „Goldenen Schuss“ wagen.  
„Alles gut! Wir sind der  Abschleppdienst. Kannst ja morgen wieder kommen! Da ist auch noch Partytime mit großem Frühschoppen. Aber jetzt ist für 2.00 Uhr die Heimfahrt organisiert.“
Inzwischen waren alle wieder  am Biertisch eingetrudelt, lediglich Mama hatte sich schon  nach Hause begeben. Molli klebten förmlich an seinem Bierglas, so, als wäre es ein Goldbarren.
Teilweise ausgepowert ließen wir uns neben ihm noch einmal nieder. Ich bestellte ich die letzte Runde und den Taxi-Bus.
„Hallo Lutz, wir haben ausgefeiert. Du musst jetzt die reinste Eichsfeld-Tour machen: Duderstadt, Wahlhausen, Bodenrode und Niederorschel. Meine Leute werden dir schon den Ausstiegsort anweisen!“ „Geht in Ordnung! Warte in dreißig Minuten in der oberen Wilhelmstraße auf euch!“ „Okay, die Rechnung geht auf mich!“
Gleich nach dem Telefonat, als fast alle Gläser leer waren, blies ich zum Aufbruch. „Alles hat ein Ende! Ich hoffe, diese Geburtstags-, Kirmes- und Jubiläumsfeier wird euch in Erinnerung bleiben!  Auf geht’s!  Wir tigern über die Scheuche direkt zum Taxi und holen uns an der Klauskapelle den letzten Segen. Wer sich noch einmal erleichtern möchte, kann das auch noch tun.“
Wenig später schlenderten wir im Grüppchen durch die Nacht, entlang der spärlich beleuchteten Stadtmauer. Das Rauschen und Plätschern des Wasserfalles wurde nun zu unserer Begleitmusik. Maren und Tim posierten am Anfang, fast hätte man glauben können, sie wären miteinander verschmolzen. Es begegneten uns ein paar Gestalten, die Schutz oder Halt an der Mauerfassade suchten. Fabian und David taumelten hinterher, Lucy an ihrer Seite. Ich hatte Manni im Schlepptau, mit dem ich nur beschwerlich vorwärts kam. „Hast wohl doch zu oft geprostet? Komm, wir müssen die anderen einholen!“
Plötzlich fing auch Lucy an zu stolpern und klagte über Kotzlaune. „ Bier und Sekt im Wechsel haben eine Doppelwirkung!“, scherzte ich.
Nun nahmen sie die Kollegen in die Mitte, was sie ohne Widerstand zu ließ. Sie hakte sich mit der Bemerkung unter: „Hauptsache ihr geht mir nicht an die Wäsche!“  „Kipp mir ja nicht aus den Latschen!“, mahnte David!“
So zogen wir zur Wilhelmstraße, rechterhand die Stadtmauer, linkerhand Geislede und Ehrenfriedhof.
Fast am Ende des Schutzwalls hinter einem Pfeilervorsprung vernahmen wir urplötzlich einen entsetzlichen ohrenbetäubenden Aufschrei aus Marens Mund.
Worte und Laute überschlugen sich in panischer Angst. Wie auf Kommando hielten wir orientierend inne und rannten nach vorne. Augenblicklich erkannten wir im spärlichen Halbdunkel der Nacht, was meine Schwester so entsetzt hatte. Im selben Moment drang Marens hilflos klingende Zitterstimme an unsere Ohren: „Da, dort unten hockt jemand!“
Tim kniete bereits neben der Person, die von den kalten Sandsteinen festgehalten wurde. „Den Umrissen und der Kleidung nach ist es eine Frau!“, stellte er fest. Rasch ergriff er, ungeachtet der Spuren die er hinterließ, die Hand der leicht zerzausten und zusammengekauerten Gestalt.
Besorgt wurden meine Gedanken laut:“ „Ruht sich nur mal  aus? Ist vielleicht  im Alkoholrausch, oder hat gesundheitliche Probleme!“
Nun folgten weitere Vermutungen: „Ist zu hart gefallen!“ „Hat sie jemand angegriffen?“, während Tim vergebens versuchte, einen Pulsschlag einzufangen. Auch am Hals konnte er kein Lebenszeichen ertasten.
Wie durch einen Eisregen ernüchtert, waren wir wieder klar im Kopf und Herr unseres Verstandes. Jeder schaute den unheilverkündenden Tatsachen entgegen, erschrocken, mitleidsvoll. Was war hier passiert? War diese Frau noch zu retten?  Befürchtungen stolperten, kreisten, überschlugen sich und wir gerieten in Panik. Mein Hirn arbeitete in Sekundenschnelle auf Hochtouren. Wie mechanisch gesteuert aktivierte ich im Sternenschein mein Handy und setzte an die 110 einen Notruf ab. Gab Standort mit Namen und Situationsschilderung durch und analysierte den Zustand der aufgefundenen Person.
Ein Gurgeln und Würgen ließ mich wiederholt aufschrecken. Lucy hing schaukelnd über einem Busch und spie im hohen Bogen eine säuerlich stinkende Lache aus, unfähig, verbal zu reagieren. „Typisch zart besaitete Frauenfiguren!“, resümierte Fabian.
Die Menschentraube um uns herum wuchs zusehends. Nachfolgende Heimkehrer, Neugierige, und die Stadtmauergestalten blieben mit gebannten Gesichtern gestikulierend stehen. Schaudern in der Nacht!
Manni eilte herbei und rief erschrocken: „Wir müssen versuchen sie wiederzubeleben!  Weg da, ich mache das!“
„Zuerst sollten wir sie in Rückenlage katapultieren! Ganz vorsichtig!“, ordnete Tim an. Fabian, der erst kürzlich den Führerschein erworben hatte, beugte sich über die leblose Frau. Beherzt griff er ihr in den Rachenraum, um festzustellen, dass er frei von Blockaden war. Dann führte er gekonnt die Mund-zu-Mund-Beatmung durch. Er presste den Brustkorb der mittelgroßen Gestalt unter sich und hauchte ihr rhythmisch seinen Atem ein. Anstrengungsschweiß hatte sich bereits auf seiner Stirn abgezeichnet, als er kraftlos aufgab. „Sie kommt nicht!“, flüsterte er, nur für uns vernehmbar. Unendlich viele Augenpaare blickten Richtung Entsetzen und Hilflosigkeit.
Im nächsten Moment ließ die Krankenwagensirene alle aufschrecken und zerriss die Spaßnacht. Blaulicht flatterte durch das Dunkel, Motoren stoppten, Schritte rasten hin und her, vor und zurück, Scheinwerfer erhellten den Fundort!
Im Bewusstsein, das Richtige zu tun, informierte ich Notarzt und Sanitäter über den Zustand der Frau sowie unsere Rettungsbemühungen. Die Einsatzkräfte der Polizei sicherten das Terrain ab. Ein Aufschrei ging durch die Schaulustigen, als die aufgefundene Frau vom Rettungsteam eingesackt wurde. Meine Nase bekam Streicheleinheiten von einem Windhauch, der Leichengestank verbreitete.
„David, schau doch bitte mal nach Lucy, vielleicht braucht sie auch unsere Hilfe. Hier ist jegliche Mühe überflüssig. Ich muss meine Schwester beruhigen, denn Tim scheint auch aus dem Gleichgewicht gefallen zu sein. Ebenfalls zart besaitet!“
„Bitte treten Sie unverzüglich zur Seite, das ist ein Fall für die Kriminalpolizei!“, ertönte eine Kommandostimme. Drei Beamte sperrten den Tatort im Scheinwerferlicht ab.
Krimi live! Ein in Plastikanzug gehülltes Wesen beäugte, betastete und inspizierte den Fundort.  Zwei Kripoleute, männlich und weiblich, rasten in einem BMW zum Schauplatz, wiesen sich per Dokument aus und eilten zum Tatort. Noch wusste niemand, ob es ein Unglücksfall, ein Suizid oder ein Gewaltverbrechen vorlag. Eine Leiche, Menschen, Gegenstände, Spuren! Es wurde markiert, nummeriert und fotografiert für die  Ermittlungs- und Beweisaufnahme.
„Ich bin Hauptkommissar Jannik Götz, meine Mitarbeiterin Ina Richter!“  Jannik war mein Kumpel vom Motorsportclub EIC. Er beglückwünschte mich rasch, dann wurde er dienstlich. „Diejenigen, die zuerst am Leichenfundort waren, halten sich bitte zu unserer Verfügung. Wir benötigen Ihre Personalien betreffs des Ermittlungsverfahrens. Falls es noch weitere Zeugen gibt, die etwas im Vorfeld beobachtet haben, müssen wir deren Aussagen ebenfalls zu Protokoll nehmen!“
Gemeinsam  verharrten wir, in den Bann des Geschehens gezogen, bis uns die Kripoleute mit ihren Fragen bombardierten.
Keine Blutspur, aber viele Unklarheiten! „Wer hat die Person zuerst entdeckt?“ Maren und Tim meldeten sich mechanisch. „Haben Sie etwas berührt oder verändert?“ Nun gab ich wahrheitsgetreu Auskunft und schilderte, was sich hier wie abgespielt hatte. „Meine Schwester und ihr Freund stießen zuerst auf die leblos zusammengekauerte Person und wir vernahmen den Hilfeschrei von Maren. Damit war unsere Feierrunde alarmiert. Als Tim nach einem Lebenszeichen der Frau forschte, eilten wir herbei und sahen, wie er sie an Puls und Halsschlagader abtastete. Keinem war so richtig bewusst, dass hier an der Stadtmauer eine Leiche lag. Noch glaubten wir, einen hilfsbedürftigen Menschen gefunden zu haben. Das war so gegen 2.10 Uhr. Ich erinnere mich exakt, weil ich kurz zuvor das Taxi bestellt hatte. Als wir die Situation für lebensbedrohlich hielten, setzte ich den Notruf ab. Die Jungs leisteten augenblicklich Erste Hilfe.  Aber ihre  Bemühungen waren erfolglos.  Bei allen diesen Aktivitäten wurden natürlich Spuren hinterlassen.  Anschließend wurde der Fall von den diensthabenden Polizisten übernommen, die zuerst hier eintrafen!“
„Kennt jemand die Tote?“
Ein wiederholtes „Nein“  ertönte und Kopfschütteln wurde signalisiert. „Kommissarin Richter nimmt  Ihre Personalien auf. Wir brauchen Sie dann morgen noch einmal zur Befragung im Revier. Wer nicht verfügbar ist, wird zu einem späteren Zeitpunkt geladen! Vorerst danke für Ihre Mithilfe!“
Ebenfalls am Tatort eingetroffen und  in den Bann des Geschehens gezogen, trat Lutz, der den Taxibus fuhr, an mich heran. „Hey, Ron, das ist ja ein Ding, ein Mord mitten in unserer friedlichen Kleinstadt. Kaum zu glauben! Es ist doch schon eine Ewigkeit her, dass bei uns getötet wurde. Ich kann mich nur an das Familiendrama von damals erinnern. Der Mörder war ein Heiligenstädter. Hoffentlich ist es nicht dieses Mal wieder einer aus unseren Reihen!“ Er redete in seiner Aufregung so schnell, dass seine Befürchtungen nur bis zu mir drangen. Zum Glück!
Im Laufe der nächsten Viertelstunde waren sämtliche Personaldaten erfasst, einige kamen nur so herausgeschossen, andere wurden mühsam herausgepresst. Die Beamten notierten das vorerst Wesentliche. Maren Hauser, geboren am 26. August 1992 in Heiligenstadt, dort wohnhaft Gartenstraße 23. Ron Richter, geboren am 28.05.1987 in Heiligenstadt, wohnt ebenfalls Gartenstraße 23. Tim Gubert, geboren am 09.04.1990 in Kassel, wohnhaft in Duderstadt, Haberstraße 40. Manfred Siebert, geboren am 10.10.1986 in Bodenrode, wohnt Hauptstraße 18. Lucy Trapp, geborene Kieljan. Am 18. Februar 1989 in Hamburg geboren. Wohnhaft in Niederorschel, Hauptstraße 93. Fabian Fischer, am 09.05.1999 in Wahlhausen geboren, wohnt Kreisstraße 31. David Richter, am 18.10.1979 geboren, wohnhaft in Niederorschel, Rasenweg 23, verheiratet, zwei Kinder.
„Sie können erst einmal gehen, wir kommen auf Sie zurück!“, entließ uns die Kommissarin.
Taxi-Lutz zeigte sich langsam ungeduldig. „Mensch Ron, wann kann ich endlich starten? Habe noch mehr Nachtfahrten.“ „Wir haben fertig, ihr könnt sofort auf Eichsfeldtour gehen!“
Vom mysteriösen Ausgang der Superveranstaltung geschockt, verharrten meine Schwester und ich noch vor der Absperrung. Unser friedliches Stadtbild wurde plötzlich ganz dunkel. Lebten wir mit einem Mörder Seite an Seite? Auch Maren zeigte sich noch benommen. Auf den Straßen hatte sie schon Unfalltote gesehen, aber noch nie ein vermeintliches Mordopfer. Selbst Tim war die Kuschellust vergangen und er stieg, sichtlich berührt, in das Taxi mit ein.
Rasch verwarfen wir weitere furchterregende Gedanken und lauschten ganz unerwartet einer  Polizeistimme, die an ein Diktaphon gerichtet war. „Leichenfund in Heiligenstadt! Kurz nach Mitternacht, so gegen 2.10 Uhr, Angestellte der „ Hauser-Farb-und Fassadenprofis“, mit Sitz in Heiligenstadt, fanden eine leblose Person im Pfeilerwinkel der Stadtmauer an der Scheuche.  Die Frau war nicht ansprechbar! Erste Hilfemaßnahmen blieben erfolglos!  Gegen 2.15 Uhr ging der Notruf ein. Wenige Minuten später waren die Einsatzkräfte vor Ort. Da der Mediziner nur noch den Tod der Person und massive Würgemale am Hals diagnostizierten konnte, übernahm die Kripo den Fall. Die Leiche, noch unbekannt, wurde von den Beamten auf dem Boden liegend vorgefunden. Gesichtszüge leicht verzerrt, so als hätten sich die Muskeln verkrampft. Der auffallend rote Lippenstift war total verschmiert, die Augen blickten starr ins Leere. Person, modern gekleidet mit einem roten Ballonkleid und schwarzen Leggins, die einige Rissstellen aufwiesen. Die Passform des Kleides wirkte verdreht. Ein Pumps, Farbe schwarz, lag neben der Leiche im Gras, der andere Schuh steckte am Fuß. Körper ist von mittelgroßer und schlanker Gestalt.  Laut Gerichtsmedizin liegt der Todeszeitpunkt zwischen 23.00 und 1.00 Uhr. Alter wird auf etwa Mitte Zwanzig geschätzt. Einblutungen in den Augen und Würgemale am Hals, die unter einem Seidentuch zum Vorschein kamen, deuten auf eine nicht natürliche Todesursache hin. Die Leichenschau wurde angewiesen. Am angenommenen Fund- und Tatort konnten  keinerlei Gegenstände sichergestellt werden. Bisher  keine Identitätshinweise! Behördenbenachrichtigung ist unverzüglich erfolgt!“
Der laue Frühlingstag war bereits in eine sternklare Nacht übergegangen, als Maren und ich den Heimweg antraten. Somit lasteten auf meinem 30. Geburtstag Todesspuren. Wortlos, uns gegenseitig festhaltend, erreichten wir das Elternhaus. Als ich mein Schwesterherz gebettet hatte, rang ich nach der eigenen Besinnung. Zu unser aller Entsetzen wurde uns noch eine Kirmesleiche aufgetischt. Was war das nur für eine schreckliche Nacht! Momentan fühlte ich mich weder kaiserlich noch königlich.  Mein Gefühlskarussell drehte sich ohne Fahrschein im Achterbahntakt. Ich schleppte mich ins Bad, im Begriff, das scheußliche Erlebnis abzuspülen. Zuvor drückte ich mir noch einen starken Maschinenkaffee, um meine Lebensgeister wieder zu wecken. Mit zittrigen Händen stellte ich den duftenden Kaffeepott auf den Waschbeckenrand in der Absicht, meine Gedanken zu sammeln. Kaum machbar! Das Spiegelbild erschreckte mich, weil es von einem verwirrten Ich gezeichnet war. Tief seufzend bespritzte ich den Spiegel mit tänzelnden Seifenschaumflocken, die ich am liebsten drangelassen hätte, um das, was passiert war, zu verwischen. Nichts lässt sich ungeschehen machen, ein Tötungsdelikt schon gar nicht. Beim Einstieg in die Duschwanne stolperte ich über den Vorlegerzipfel und machte eine leichte Bauchlandung auf dem Badeteppich. Erschrocken richtete ich mich wieder auf und mir wurde bewusst, dass unser Leben tagtäglich ein Ende finden kann. Von dieser Vorstellung besetzt, verzichtete mein Körper auf die Generalreinigung. Meine Hände griffen noch ein Bierchen und ich säuselte mich in den Schlaf, leider nur kurzzeitig. Die wenigen Stunden bis zum Sonnenaufgang wurden zur Qual. Ständig veränderte ich meine Lage im Bett, so als würde ich über glühenden Kohlen schweben, zog die Hand unter dem Kopf hervor und fuhr mir durch die kurzen dunkelbraunen Haare. Dann strich ich mir über die Augen und seufzte tief. Erschöpft dämmerte ich irgendwann ein.
Als mich der Dienstagmorgen begrüßte, war es bereits 10.00 Uhr. Nach dem Blick auf den Radiowecker fuhr ich aus den Kissen hoch, völlig aufgewühlt und wie zerschmettert. Zu meiner Erlösung war heute noch arbeitsfrei. Wir hatten uns erlaubt, kleine Pfingstferien einzulegen. Ich schleppte meinen total übermüdeten Körper zum Badezimmer und schaltete mit der einen freien Hand, während ich pinkelte, das Radio wie gewohnt ein. Ein Sprecher von Landeswelle Thüringen verkündete gerade die neuesten Nachrichten. Das Weltgeschehen rauschte an mir vorbei. Aber nun wurde ich hellwach. „Laut Meldung der Polizeiinspektion Heiligenstadt nahm die gestrige Kirmesveranstaltung der Heimensteiner ein tödliches Ende. Wenige Stunden nach Mitternacht, gegen 2.10 Uhr, entdeckte eine Kirmestruppe an der Stadtmauer Scheuche in Festplatznähe den leblosen Körper einer noch nicht identifizierten Frau. Die Spurensicherung konnte ihre Untersuchungen erst in den hellen Morgenstunden beenden. Rings um den Fundort wurden viele Tretspuren gesichert, große, kleine, deutliche und unbrauchbare. In helfender Absicht hinterließen die Personen, die die Leiche entdeckt hatten, auch ihre Fußabdrücke. Spuren, die an vielen Plätzen der Innenstadt tausendfach auffindbar waren. Der gerichtsmedizinische Befund steht ebenfalls noch aus. Alle Ermittlungen laufen auf Hochtouren und in sämtliche Richtungen, da von einem Tötungsverbrechen ausgegangen werden muss. In unserem Internetportal finden Sie Foto und Personenbeschreibung der noch Unbekannten. Vermisst jemand seit gestern eine weibliche Person? Hat irgendeiner in der letzten Nacht verdächtige Bekanntschaften oder Beobachtungen gemacht? Es stehen noch viele Fragen zur Klärung dieses Falles offen. Die Kriminalpolizei Heiligenstadt bittet um Ihre Mithilfe. Melden Sie sich bitte umgehend bei der Polizeiinspektion Eichsfeld unter der Nummer 651-0, wenn Sie Hinweise zu diesem Fall geben können. Im Laufe des heutigen Nachmittages werden wir den Fahndungssteckbrief in verschiedenen Stadtvierteln aushängen. Seien Sie wachsam. Unser Thüringen, das grüne Herz Deutschlands, darf nicht zum blutigen Herz werden!“
Beim Anziehen hatte ich Mühe, die Beine in die Hose zu bekommen. Aus dem Radio vernahm ich nur noch hektische Musikfetzen. Mit einer bösen Vorahnung lief mein Kopfkino ab, das ich in Worte fasste: „Wir, angetrunken, stimmungsgeladen und nichts ahnend, hatten eine Kirmesleiche gefunden. Die Kripo geht von einem Mordfall aus und ermittelt. Sucht nach Fußspuren, untersucht, ob der Täter irgendetwas zurückgelassen hat, forscht nach Stoffresten, die vielleicht im Gebüsch hängen geblieben sind. Schon geraten wir ins Ermittlungsspektrum, weil unsere Spuren mit Sicherheit vorhanden sind. Da rollt eine Untersuchungslawine auf uns zu. Fragen, wie: Wer ist diese Frau? Was verrät ihr familiäres Umfeld? Warum war sie ohne Handtasche unterwegs, das ist doch nicht frauentypisch? Kannte sie ihren Mörder? Hat der Täter vorsätzlich gemordet? Ist der Fundort auch der Platz, an dem die Frau zu Tode kam? War es ein Raubmord? Mein Gott, wie viele Fragen warf  doch so ein Tötungsdelikt auf!“
Mama hatte wie üblich den Kaffeetisch für ihre großen Kinder reichlich gedeckt. Sie war froh, dass wir noch bei ihr wohnten und Papas Lebenswerk fortsetzten. Als Witwe bemutterte sie uns fast so wie im Kleinkindalter. Kaum stand ich in der Küche, hatte sich ihr Gesicht mit Tränen überflutet. Sie war eine kluge, gut aussehende und liebevolle Frau, die für Jeden Mitgefühl aufbrachte. „Junge, hast du schon gehört, was heute Nacht Entsetzliches in der Nähe von Klausberg und Marienkirche, unweit des Kirmestreibens passiert ist? Unvorstellbar, furchtbar! Ein Mord in unsere Stadt.“ „Ja, Mama und wir waren dabei, als Zeugen sozusagen, weil Maren und Tim die Frau zuerst entdeckten“ „Das klingt ja aufregend. War sie schon tot, als ihr kamt?“ „Ja, Mama!“ „Hat man den Mörder auch?“ „Nein, Mama! Ich gehe Maren wecken. Wir sind nämlich für 11.00 Uhr ins Polizeirevier bestellt!“
„Es wird doch wohl keiner von euch etwas mit der Toten zu tun haben?“ „Nein, Mama!“
Beim Wegtreten atmete ich wieder einmal tief durch. Unsere Mutter wollte immer alles ganz genau wissen.
Maren wuselte schon im Bad rum. „Wir warten mit dem Frühstück, beeile dich, müssen Tempo machen!“
Wortlos saßen wir am Kaffeetisch, als Mama die Ermittlungen wieder aufnahm. „Armes Kind, den Schrecken der Nacht sieht man dir noch an. Hoffentlich hat der entsetzliche Anblick dieser Frau keinen Abdruck auf deiner sonst so fröhlichen Seele hinterlassen! Jetzt haben meine Kinder auch noch mit der Polizei zu tun, sogar mit der Kriminalpolizei, einfach peinlich!“
„ Unmöglich, dass einer von uns in Verdacht gerät, wir waren doch fast den ganzen Tag und die halbe Nacht zusammen. Jeder kann jedem ein Alibi geben. Wir haben nichts zu befürchten, sind alle schuldlos, waren nur zur falschen Zeit am Ort des Verbrechens.“, beruhigte ich die aufgewühlten Gemüter.
Nun zückte Maren ihr Handy und sagte beim Rausgehen: „ Muss  noch rasch mit Tim telefonieren!“
Ich beruhigte Mama:  „Wir werden nichts als die reine Wahrheit sagen. Ein reines Gewissen ist eben ein sanftes Ruhekissen!“  










 

Sonntag, 6. Mai 2018

Kirmesevent- traditionell und einzigartig!


 Hommage an die Heimensteiner
In unserer Stadt gibt es mehrere Kirmesvereine, aber das Eierkettenkirchweihfest auf und um den Klausberg ist alljährlich ein Event der Extraklasse, Hand in Hand von den Anwohnern mit großem Aufwand und viel Herzblut organisiert und gestaltet. Die Tradition geht auf die Gründung eines Kirmesburschenvereins im Jahre 1363 zurück und wurde bis heute von Generation zu Generation weitergetragen. Ich denke da an die Familie Schabacker. Kirmesmutter Hedwig schmückte über einige  Jahrzehnte den Kirmeszug mit dem Familienblock. Von Alt bis Jung stellten sie die bestaunenswerten traditionellen Eichsfelder Trachten zur  Schau.  Die Erwachsenen marschierten in der ersten Reihe, dann folgten Kinder und Enkelkinder. Die Kleinsten wurden im Kinder- oder Bollerwagen befördert.

Die kunstvoll aufgefädelten  Eierketten, mit viel Liebe und Sorgfalt von Haus zu Haus gespannt, sind inzwischen zum Besuchermagnet geworden. Wenn am Pfingstmontag der Umzug auf dem Programm steht, ist fast die ganze Stadt auf den Beinen.  Keiner möchte das große Spektakel verpassen. Mit den Klängen der vielfältigen Musikkapellen explodiert das Kirmesereignis. Im ersten Block marschieren die Schärpen  gezierten Kirmesburschen mit ihren in Ballkleidern gekrönten Mädels. Manchmal werden die Majestäten auch mit blumengeschmückten Wagen chauffiert. Umjubelt wird stets die  prächtig  gestaltete Kirmeskutsche mit Probst, Landrat und Bürgermeister. Die mit viel Witz und Humor gestalteten Motivwagen greifen stets aus neue  brisante Themen aus Stadtpolitik und Weltnachrichten auf. Sogar zu DDR- Zeiten wagte man sich auf die Bühne des politischen Parketts, trotz Zensur. Tanzende Gruppen und lautstarke Musik  heizen die Stimmung an. Von Jahr zu Jahr werden mehr Gäste angelockt, so dass dieses Kirmesevent längst kein Stadtereignis mehr ist.

Ich wohne und lebe mit meiner Familie seit 40 Jahren hier und habe mich recht gut beheimatet. Da mein Arbeitsbereich die Lindenalleeschule war, ist mir in all den Jahren kaum eine Kirmesfeier entgangen.  So passierte es einmal, dass das Heringsessen nach Heimensteiner Art zum Unterrichtethema wurde. Plötzlich klopfte es lautstark an die Klassentür. Noch bevor ich erzieherisch reagieren konnte, stürmte eine stimmungsgeladene Männertruppe in Fischerhemden in den Raum. Zwei Burschen trugen dienstbeflissen eine Stange, auf der die Fische aufgereiht waren. Die Schüler johlten und schlossen sich dem lustigen Zug an. In der folgenden Deutschstunde bekamen die Kinder die Aufgabe, einen Text zum  Thema: „ Wiedergeben von Eindrücken“ zu erarbeiten. Einfach unvergesslich!

In diesem Jahr möchte ich das große Ereignis zum Anlass nehmen, schon im Vorfeld für Spannung  zu sorgen und meinen ersten Eichsfeldkrimi aus der Taufe heben. Sie finden die „Kirmesleichen“ unter:  www. irmhild-ehrenberg.blogspot. de